■ Schlagloch
: Der linke Bismarck Von Friedrich Küppersbusch

„Die Welle trägt, aber man kann sie nicht lenken.“

Bismarck

So wird es sich schmökern, heute abend unterm Lichterbaum, überall dort, wo das humanistische Bildungsideal den Wunschzettel diktierte. Beziehungsweise wo es seinem liberalen Geist folgend ein Geschenkvorschlag machte, dem Herz, Hirn und Brieftasche einvernehmlich zu entsprechen geneigt sind. Jedenfalls: Bismarck-Biographien zum bevorstehenden 100sten Todesjahr des Reichskanzlers. In den drei Geschmacksrichtungen kritisch, gründlich und Vanille. In den letzten Wochen allerorten rezensiert im Dreierpack: Willms, Pflanze, Krockow.

Einig sind sich die Verlage und, ihnen folgend, Rezensenten, zunächst einmal darin, daß das nächste ein Bismarck-Jahr werde. Dies aus keinem tieferen als dem äußeren Anlaß, daß 1998 hinten so heißt wie das Todesjahr Otto von Bismarcks. Der innere Anlaß aber sei des großen Junkers Bedeutung, Funktion, Leistung als Reichsgründer, Einiger der Deutschen, Wegbereiter alles Folgenden, dominierenden Staatsmann des letzten Jahrhunderts oder kurz ziemlich dicker Otto. In der Schule hatte ich erst einen Deutschlehrer, der auch Geschichte gab und deshalb Deutschland sah und vermittelte als „Walther von der Vogelweide und die Folgen“. Und natürlich Faschismus. Dann kam ein rübergemachter Ungar, ein lieber Mensch und seit dem Ungarnaufstand enttäuschter Sozialist. Er betonte die Sozialistenverfolgung nach der Reichsgründung, die Abgründe des Stalinismus – und natürlich Faschismus. Zum Schluß ein Lehrer aus der Flakhelfergeneration, Kriegsversehrter, Sozialdemokrat. Sein Thema: Zweiter Weltkrieg, Faschismus. Bis zum Abi also das Dritte Reich dreimal auf Platz eins, bitte nicht wiederwählen. Bis zum Beweis des Gegenteils deshalb hier die These, daß die Marktlücke für eine ordentliche Bismarck-Biographie schon mit den Lehrplänen der 60er, 70er und 80er beherzt gerissen wurde. Genauer: Mit der „Nie wieder!“-Motivation, die unsere Historiker seinerzeit an die Arbeit trieb. Dem Antrag auf ordnungsgemäßen Verzehr einer sättigenden Portion Bismarck wird aus den vorgenannten Gründen hier also stattgegeben. Auf die obligate „Was können Sie denn heute empfehlen“-Frage seien folgende Wertungen zitiert: Krockow sei oberflächlich, Willms meinungsstark und Pflanze das neue Standardwerk. Dann aber beugt sich der Literaturkellner dem Gast beflissen ans Ohr und tuschelt: Krockow hatte ich an drei Abenden durch, bei Willms habe ich mich erst bis zur Hälfte vorgerobbt, und Pflanze, drei Bände à 1.000 Seiten, wenn Ihre Gäste das in Ihrem Bücherschrank sehen, wird das immer ein Anknüpfungspunkt für ein gutes Gespräch sein.

Christian Graf von Krockow erwarb meine Neigung zuvor mit dem Bändchen „Preußen – eine Bilanz“, geschrieben wohl als „extended version“ seines Festvortrags zur Umbettung der Preußenkönige 1991. Ein ebenso groteskes wie auch im tieferen Sinne grottoides Ereignis seinerzeit, dem einzig Krockow Glanz verlieh mit dem elegant untergerührten Hinweis, daß die versammelten Vergammelten mit dem Alten Fritz gerade Deutschlands größten Schwulen ehren, respektive seine Gebeine, jedenfalls ziemlich preußische Sache, das. Zum Küssen. Krockow – ist es seine pommersche, seine adlige oder seine literarische Abkunft? – hat keine Angst vor Bismarck, wagt sich der Frage nach, wann der freßsüchtige Diktator wohl zuletzt verliebt gewesen sei und zitiert munter seitenweise des Alten eigene Briefe und Werke. Da Bismarck gut schrieb, wohl nicht sehr wahrhaftig, sicher aber süffig, liest sich das prima. Nach 420 Seiten hat man bemerkenswert wenig über den Innenpolitiker, den Sozialistenfresser, den Erfinder der Sozialversicherung gelesen. Aber doch etwas Kostbares gewonnen: Eine Ahnung von dem Menschen Bismarck.

Johannes Willms schreibt alltags bei der Süddeutschen, wo Fremdwörter offenbar so verpönt sind, daß er sie alle nach Feierabend loswerden muß. Das „friderizianische toujours en vendette“, tjaha, aber „dennoch hat Bismarck, man muß sagen malgré lui“, genau, muß man wohl sagen, denn schließlich geht es um „europäische Kabinettspolitik im 18. Jahrhundert, zu deren Arkana der renversement des allicances selbstverständich gehörte“. Wem sagt er das? Mir, aber es nützt nix. Im Zeichen des vorerwähnten humanistischen Bildungsideals sei es mannhaft hingenommen, daß ein Autor einfach mal ein paar Gedanken lang alleine weiterschreiben möchte. Ich werde das also zu Ende lesen, auf die Gefahr hin, dann immer noch wenig verstanden zu haben. Und mit dem Gefühl zu hinterbleiben, hier einen trefflichen und originellen Kommentar zu einer Bismarck-Biographie gelesen zu haben, die anständige Leute eben lesen, bevor sie ihren Willms aufschlagen.

Die aber liefere der letzte im Bunde, der US-Historiker Otto Pflanze. Meine Entscheidung dieses Werk betreffend überbrückt die 20 Jahre seit jener Entscheidung, Geschichte nicht als Leistungskurs zu wählen. Wer es aber liest, der mag mir schreiben.

Nachdem der Rezensent nun aber die Beinkleider so weit heruntergelassen hat, zu bekennen, von den drei in Rede stehenden anderthalb auch gelesen zu haben, gilt es noch, die kostbarsten der Lesefrüchte zu schildern: Das zurückliegende Jahr war, keiner hat's gemerkt, ein, Achtung, jetzt kommt's Bismarck-Jahr. Jawoll. Die paritätische Sozialversicherung, jenes Erbe Bismarcks, das haltbarer war als die Reichsgrenzen, die er hinterließ, war Thema des Jahres. Genauer: ihre Demontage. Aufmerksam notierten die Blätter, wie noch ein Graf, Lambsdorff diesmal, sich anschickt, seinen Arbeitsplatz im Bundestag aufzugeben und das Bismarck-Portrait in seinem MdB- Büro abzuhängen. Gemessen an der Sozialpolitik Lambsdorffs und der Seinen war Bismarck ein Linker. Beileibe aus keiner edleren Überzeugung als der, daß es sich leichter diktatorisch regieren ließ, wenn Parlament und Pöbel die Schnauze hielten. Renten-, Invaliden- und Krankenversicherung waren ein verordneter Klassenausgleich. Wer diesen Stöpsel aus dem Behälter zieht, wird staunen, wieviel Druck da noch drauf ist. Liberale Fraktion: Bismarck-Bio lesen, nachdenken, nochmal nachdenken, Schnauze halten.

Und dann noch der andere, der neue Reichsgründer bzw. -einiger bzw. dicke Otto: Er heißt Helmut und liest, so schildern es die ihm Nahen, gern Politikerbiographien. So ist es nicht ganz unwahrscheinlich, daß heute abend auch in Ludwigshafen der Kanzlers seiner Gattin dankt für – eine Bismarck-Bio. Meine These, und damit möchte ich Sie dann doch herzlich einladen, das Bismarck-Jahr zu diesbezüglicher Lektüre zu nutzen: Kohl ist Bismarck. Oder wie der aufmerksame Krockow den Alten vom Sachsenwald zitiert: „Man kann eben nur immer darauf achten, ob man den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten sieht, dann zuspringen und sich an seines Mantel Zipfel klammern, daß man mit ihm fortgerissen wird, so weit es gehen soll.“ Das wird ein Jahr!