Schneider frei unter dem Tannenbaum

Sechs Jahre und neun Monate Haft hat der Ex-Immobilienspekulant Jürgen Schneider gestern bekommen. Das Gericht hob den Haftbefehl auf, so daß Schneider zu Weihnachten Kartoffelsalat im eigenen Heim speisen wird  ■ Aus Frankfurt Heide Platen

Das war der entscheidende Satz. Auf ihn hatte Jürgen Schneider gestern mittag bis zuletzt angespannt gewartet. In Hoffnung darauf hatte er, in halber Heldenpose, aufrecht und das Kinn vorgereckt, eine Minute zuvor in den Saal geschmettert: „Ich nehme das Urteil an!“ Der Vorsitzende der 29. Großen Strafkammer des Frankfurter Landgerichts, Heinrich Gehrke, honorierte prompt: „Der Haftbefehl ist aufgehoben.“ Der am Morgen zu sechs Jahren und neun Monaten Gefängnis wegen schweren Betruges, Kreditbetruges und Urkundenfälschung verurteilte ehemalige Immobilienspekulant verließ den Saal als vorerst freier Mann.

Das Gericht rechnete die 31 Monate Untersuchungshaft, davon neun in seinem Fluchtort Miami, auf die Strafe an. Wegen der geringen Reststrafe, die er später antreten kann, schloß das Gericht eine neue Flucht Schneiders aus. Ehefrau Claudia Schneider-Granzow zerdrückte einige Tränen und enteilte händchenhaltend. „Erst einmal in den Arm nehmen“ wolle sie ihren Ehemann, hatte sie der drängenden Öffentlichkeit vorher noch mitgeteilt. Und daß es zu Weihnachten Würstchen mit Kartoffelsalat geben werde im Haushalt der ehemaligen Milliardäre.

Richter Gehrke hatte in seiner über zweistündigen Urteilsbegründung akribisch alle fünf angeklagten Fälle aufgelistet und noch einmal geschildert, wie Schneider seit mindestens 1991 dreistellige Millionenkredite für seine Bauobjekte in Berlin, Frankfurt und Leipzig erschwindelte. Er habe während seines „unglaublichen Wirkens“ mit erheblicher krimineller Energie und Perfektion gelogen, betrogen und gefälscht.

Lange Passagen widmete Gehrke aber auch dem von ihm als strafmildernd gewerteten Verhalten der deutschen Großbanken und ihrer Töchter. Die seien mit „schier unglaublichem Leichtsinn“ und „unfaßbarer Fahrlässigkeit“ auf Schneider hereingefallen und hätten dabei „Hinweise, so groß wie Scheunentore“ übersehen. Immer wieder hätten sie gegen gesetzliche Kontrollauflagen verstoßen, dubiose Verträge mit noch dubioseren Briefkastenfirmen akzeptiert und die wirkliche Vermögenslage des Baulöwen nicht geprüft: „Er galt als unermeßlich reich und seriös.“

Als die Banker sich dann 1993 im Fall der Berliner Tauentzienstraße zögerlich auf ihre Kontrollfunktionen besannen, habe Schneider noch immer leichtes Spiel gehabt und sie „mit einem bühnenreifen Verwirrspiel“ in seiner pompösen Villa im Taunus so sehr geblendet, „daß sie hinterher gar nicht mehr genau wußten, was sie gesehen hatten“. Der Fall sei „eine Parabel auf unsere Gesellschaft“, in der „Schein mehr als Sein“ gelte. 1993 habe Schneider schon gewußt, daß „der Schneeball“ ausgerollt sei und es ihm an den Kragen gehen werde, sei aber dennoch „nicht in Panik geraten“, sondern habe seine Flucht vorbereitet.

240 Millionen Mark hatte Schneider 1994 über London in die Schweiz transferiert. Über einen Mittelsmann wollte er aus seinem „Erholungsurlaub“ (Schneider zu Prozeßbeginn) an das Geld gelangen. Der Deutschen Bank hinterließ er Kredite über 1,184 Milliarden Mark und einen Abschiedsbrief, daß er auf Anraten seines Arztes ausspanne. Insgesamt ließ Schneider damals über 5 Milliarden Mark Schulden und 2.000 Gläubiger – in erster Linie Handwerker – zurück.

Schneider, so das Gericht, sei als Unternehmer 1981 „aus dem Nichts“ aufgetaucht, habe eine „Sammlerwut“ für „historisch wertvolle Geschäftshäuser“ entwickelt und sich immer mehr verschuldet: „Er kaufte zu teuer, baute zu aufwendig und vermietete zu schlecht.“ Zu Beginn habe er sich durch die späte Selbständigkeit gegen seinen preußisch strengen Vater, „der ihn kujonierte und demütigte“, behaupten wollen. Dabei habe er manisch gearbeitet, bescheiden gelebt und an seinen Erfolg geglaubt. Es sei ihm trotz aller Eitelkeit „mit vielen Toupets“ nicht um Statussymbole, sondern immer um Anerkennung und Bewunderung gegangen. Das habe er durch sein Auftreten vor Gericht bewiesen. Auch heute sei ihm nichts wichtiger als „die Wiederaufnahme in die Gesellschaft“.

Gehrke lobte den 63jährigen Angeklagten für seine Geständnisse und für die späte Einsicht in seine eigene Schuld, die ihm „erkennbar sehr schwer gefallen“ sei. Anfangs habe er probiert, „nach Politikerart“ nichts zu sagen oder sich herauszureden, dann aber „auf den klugen Rat seiner erfahrenen Verteidiger klar und detailliert“ ausgesagt und nicht mehr versucht, Dritte zu beschuldigen. Dies und die Fairneß von Staatsanwaltschaft und Verteidigung habe entscheidend dazu beigetragen, daß der erwartete „Mammutprozeß“ mit „gigantischen Aktenbergen“ statt mehrerer Jahre nur ein halbes gedauert habe.

Für das Urteil, das genau in der Mitte ein Jahr unter der Forderung von Staatsanwalt Dieter Haike und eines über den Vorstellungen der Verteidigung lag, habe es „keinen Deal“ gegeben. Schneider, der der Urteilsbegründung vom Anfang bis zum Ende bewegungslos und konzentriert zugehört hatte, wirkte in der kurzen Verhandlungspause fast verwirrt. Die Staatsanwaltschaft legte gestern Beschwerde gegen die Aufhebung des Haftbefehls ein. Sie sieht immer noch Fluchtgefahr gegeben. Diese hatte Richter Gehrke ausgeschlossen, weil Schneider glaubhaft versichert habe, daß er an seinen „geliebten Taunuswäldern hänge“ und sich in den Vereinigten Staaten auf der Flucht in einem fremden Land nicht zurechtgefunden habe.

Das letzte Wort im Gerichtssaal hatte gestern der mitangeklagte ehemalige Angestellte Schneiders, Karl Heinrich Küpferle. Das Gericht hatte ihn wegen Beihilfe zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt und als „sklavisch abhängigen“ Paladin des Immobilienmaklers bezeichnet. Küpferle echote seinem Chef auch zum Schluß noch hinterher: „Ich nehme auch die Strafe an.“

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