Analyse
: Unklarheit als Ziel

■ Der Prozeß gegen "Carlos" hat die wichtigsten Fragen nicht zugelassen

Eigentlich war für gestern eine Urteilsverkündung geplant, die eine Premiere in der französischen Justizgeschichte gewesen wäre. In Bordeaux sollten Geschworene darüber entscheiden, ob sich der einstige Spitzenfunktionär und Minister Maurice Papon Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat, als er zwischen 1942 und 1944 die Deportation von 1.560 Juden aus Bordeaux organisierte. Aber dazu kam es nicht. Nach monatelangen Verhandlungen ist die Beweislast zwar groß, doch sorgten eine geschickte Verteidigung, gepaart mit opportunen Krankschreibungen des 87jährigen Angeklagten, dafür, den Prozeß bis mindestens März 1998 zu verlängern.

Statt dessen schickten sich gestern abend in Paris Geschworene in einem ganz anderen, aber mindestens ebenso spektakulären Verfahren an, ein Urteil zu finden. Sie sollten entscheiden, ob der jahrzehntelang weltweit gesuchte Carlos, mit bürgerlichem Namen Ilich Ramirez Sánchez, der tödlichen Schüsse vom 27. Juni 1975 auf zwei Agenten der französischen Spionageabwehr DST und einen libanesischen Spitzel schuldig ist. Auch sie mußten über eine vergangene Epoche befinden, und auch sie waren mit einem Angeklagten von hohem symbolischem Wert konfrontiert. Aber während Papon Freigang hat und in Luxushotels residiert, wurde Carlos von DST-Agenten im Sudan gekidnappt, betäubt und in einem Sack nach Frankreich transportiert. Und während für Papon die Unschuldsvermutung gilt, hat an Carlos' Schuld weder in Justiz noch Medien je ein Zweifel bestanden.

Um diese zu beweisen, hätte das Gericht die überlebenden Augenzeugen laden, alle „verlorenen“ Dokumente und die Aussagen der damaligen Polizeiverhöre einbringen müssen. Nichts dergleichen ist geschehen. Am Ende der acht Verhandlungstage ist über die Schießerei nichts Neues bekannt geworden. So blieb zum Beispiel unklar, warum die drei Anti-Terror-Experten, die Carlos an jenem Junitag 1975 gegenüberstanden, unbewaffnet waren und weshalb sie ein Foto von Carlos dabei hatten, obwohl er ihnen laut Anklageakte damals ein „völlig Unbekannter“ war.

Dieser Prozeß sollte keine Fragen stellen. Er diente vor allem dem Zweck, Carlos schnell und langfristig hinter Gitter zu bringen. Um dann – vielleicht eines fernen Tages, wenn die politisch Verantwortlichen der 70er Jahre in Frankreich und anderswo nicht mehr in Amt und Würden sind – die wirklich großen Verfahren wegen seiner Attentate in aller Welt anzustrengen. Dorothea Hahn