Liebe Leserin, lieber Leser

Über fünfzig Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Fünfzig Millionen Menschen – das entspricht fast der Bevölkerung Frankreichs. Eine Nation ohne Heimat. Besonders der afrikanische Kontinent wird von Flüchtlingswellen erschüttert.

Bürgerkriege, Stammesfehden und das nicht mehr zu bewältigende Vertreibungselend lassen die Menschen nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder haben wir in den letzten Jahren darüber berichtet. Immer wieder sind neue „Krisenherde“ dazugekommen.

Mit den Flüchtlingen ziehen die Berichterstatter um die Welt. Sie haben den Auftrag, dem wandernden Elend ein Gesicht zu geben. Aber in der Eile der aktuellen Berichterstattung erhaschen sie doch allzuoft nur vage, anonyme Momentaufnahmen.

Als im April 1994 die ersten schrecklichen Nachrichten aus dem Krisengebiet Ruanda um die Welt gingen, entschied die Hamburger Fotoagentur Signum nach langer Diskussion, nicht in das Flüchtlingsgebiet zu fahren. „Wir haben damals keine Möglichkeit gesehen, andere Bilder zu machen als die, die ohnehin in den Medien abgedruckt waren“, erinnert sich Signum- Mitgründer Andreas Herzau. Die fünf Kollegen der Hamburger Fotoagentur verstehen sich nicht als Kriegs- und Krisenjournalisten. Es geht ihnen nicht um die bebilderten News, sondern vielmehr um die Menschen hinter der Nachricht.

Diesem Prinzip, gerade dann innezuhalten und noch einmal hinzuschauen, wenn der Troß längst weitergezogen ist, verdankt auch die taz einiges. Seit vielen Jahren arbeiten wir mit Signum zusammen und können damit auch den Horizont der taz-Berichterstattung um einige neue Ansichten erweitern.

Mit dieser Ausgabe möchten wir nun unsererseits einmal innehalten, um Ihnen die Fotoarbeiten in ihrem Kontext zu zeigen. Nicht nur das Thema „Flucht“ steht hier im Vordergrund, sondern auch die Bildsprache, in der sich die Berichterstatter mit diesem drängenden Thema auseinandersetzen. Die Struktur der vorliegenden Ausgabe, die dem Ausstellungsprojekt „Flucht“ entnommen ist, folgt deshalb den Fotografen in ihre Berichtsgebiete: Jede Doppelseite stellt einen Fotografen und seine Arbeit vor. taz-Autor Ulrich Clewing portraitiert den Reporter und hat sich pars pro toto die Entstehungsgeschichte eines Fotos ezählen lassen. So erschließen sich Herangehensweisen, Motivationen und Erfahrungen der Signum-Fotografen.

Den Anfang macht auf dieser Doppelseite Andreas Herzau, der 1995 doch noch nach Ruanda fuhr und von dort Geschichten, Schicksale, Bilder mitbrachte, die sich von dem bisher Gesehenen unterschieden. Diesen „fernen“ Eindrücken werden Bilder aus Hamburg zur Seite gestellt. Männer, die in einem deutschen Gefängnis auf ihre Abschiebung warten. Aus dieser Serie, für die Herzau unlängst mit dem „european fuji press award“ ausgezeichnet wurde, stammt auch unser Titelfoto. Klaudia Brunst