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Revolution in der Schanzenstraße

Den Spuren, die der Pazifist Carl von Ossietzky und der freigeistige Pfadweiser-Verlag nach dem Ersten Weltkrieg in Hamburg hinterließen, spürte nach  ■ Kay Dohnke

Hamburg, Schanzenviertel, Frühjahr 1919:

Ein Mann betritt die Passage zum Haus 41a und verschwindet im Eingang Nummer 2. Rechts von der Tür, auf dem Fenster, steht in großen Lettern „Pfadweiser-Verlag“. So unbekannt sein Arbeitsplatz heute auch ist, so bekannt ist der Mann selbst: Carl von Ossietzky, Journalist, Pazifist, späterer Träger des Friedensnobelpreises.

Das Frühjahr 1919 ist eine Zeit des Aufbruchs: Nach vier Jahren Krieg ist wieder ein offenes Wort möglich, denn mit dem maroden Kaiserreich sind auch die Zensurbehörden einstweilen verschwunden. Der deutschen Bevölkerung Wege in eine menschlichere Zukunft zu weisen, dazu fühlen sich die Aktivisten der Hamburger Friedensbewegung berufen. Carl Thinius hat sie – Ossietzky, den Reformpädagogen Wilhelm Lamszus, den Rektor G. Höft, den Kaufmann August Kahl – in seinem neu gegründeten Verlag um sich geschart. Sie wollen nicht mehr auf Autoritäten hören, sondern Orientierung aus ihrer gefestigten Weltanschauung heraus geben. Pfadweiser-Verlag – der Name ist Programm.

Kennengelernt hatten sich Thinius, Ossietzky, Lamszus und viele weitere Autoren des Verlages schon vor dem Krieg als Mitglieder der Hamburger Ortsgruppe des Monistenbundes. Seit 1912 waren die Anhänger einer „einheitlichen (monistischen) wissenschaftlich begründeten Welt- und Lebensanschauung“in Hamburg mit Vorträgen, Diskussionen und Publikationen aktiv und standen der Deutschen Friedensgesellschaft nahe.

Die „Ethisierung der Politik“war für Ossietzky die Zukunftsaufgabe schlechthin. „Da kann der Monistenbund nicht beiseite stehen, er muß tätig mitwirken an der Heranbildung einer Politik, die nicht den Charakter verdirbt.“Doch rief der intellektuelle Pazifist nicht nach radikaler Veränderung der Gesellschaft. Ganz im Sinne des Monismus setzte er auf die evolutionäre Weiterentwicklung des sozialen und politischen Miteinanders durch Aufklärung und Überzeugung. Carl Thinius' Verlag bot den passenden Rahmen dafür.

Hamburg, Schanzenviertel, das Büro im Haus 41a:

Wird von hier aus die Veredelung des Menschengeschlechts ihren Anfang nehmen? Doch die zentrale Frage der engagierten Pazifisten, Reformer, Volkspädagogen lautet nicht: Wie soll das gehen? Gefragt werden muß: Wer will was lesen? Und – wer hat Geld, sich Gedrucktes zu kaufen? Zwar sind die Pfadweiser-Schriften dünn und billig, die Zeiten aber schwierig. Während man in der Schanze an intellektuellen Zukunftskonzepten herumredigiert und im Rathaus der Arbeiter- und Soldatenrat die Macht neu strukturiert, demonstrieren die notleidenden Hamburger im Sommer 1919 gegen verrottete Sülze und frieren sich durch den folgenden strengen Winter. 1920 kommt es zu schweren Hungerunruhen. Und bei leerem Magen frißt der Kopf nicht gern utopische Traktate.

Zum primären Textfundus des Verlages werden die Vorträge des Monistenbundes, die schnell als kleine Traktate auf den Markt kommen, aber wohl nicht sehr attraktiv sind. Kahl schreibt über das physikalische Weltbild, Paul Schön gegen geistige Sklaverei, Ossietzky sieht eine neue Revolution im Anmarsch, Alfred Menzel erläutert Goethes Welt- und Lebensanschauung. Den hungernden und frierenden Hamburgern hilft das wenig.

Ossietzkys Tätigkeit als Lektor endet früh: Schon im Sommer 1919 geht er als Sekretär der Deutschen Friedensgesellschaft nach Berlin. Thinius und die Hamburger Mitstreiter führen den Verlag weiter. Zu den theoretischen Texten, die sich an ein Insider-Publikum wenden, gesellen sich verkaufsträchtigere Titel. Wilhelm Lamszus' seit 1915 verbotenes Antikriegsbuch Das Menschenschlachthaus erscheint als Neuauflage, Ossietzky schreibt für die noch 1919 vorgelegte Fortsetzung Das Irrenhaus ein Vorwort. Bis 1921 können von beiden Titeln 55.000 Exemplare verkauft werden.

Im Lauf des Jahres 1920 erhält der Pfadweiser-Verlag auf dem eigenen engen Gebiet Konkurrenz. Der Hartung-Verlag bringt Monistische kleine Flugschriften heraus, und eine Monistische Bibliothek erscheint im Hamburger Verlag in der ABC-Straße. Wohl auch aus diesem Grund verlagert Carl Thinius seine Aktivitäten 1922 stärker auf den Pionier-Verlag und läßt den Pfadweiser-Verlag später einschlafen.

Hamburg, Schanzenviertel, über 70 Jahre danach:

Wieder betritt ein Mann die Passage zum Haus Nr. 41a. Es ist der Fotograf Günter Zint auf der Spur des längst in Vergessenheit geratenen Verlages. Die Szenerie hat sich verändert: Hausbesetzer, Punks, Alternative kümmern sich um die leerstehenden Gebäude. Zwar mag der Wille, mit friedlichen oder auch radikaleren Mitteln eine andere Gesellschaft zu schaffen, den hier Tätigen vertraut sein – von der Tradition dieses Ortes wissen sie aber nichts. Als Zint Fragen über den Verlag stellt und anmerkt, Carl von Ossietzky habe mal dort gearbeitet, lautet die Antwort schlicht: „Ossietzky? Nee, wohnt hier nicht.“

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