Auf der Suche nach dem verlorenen Ton

Kommt ein Solo geflogen, läßt sich nieder in mei'm Blues: Seit drei Jahrzehnten fahndet Ry Cooder nach Momenten der wahren Empfindung. Doch wo immer er hinkommt, war die Zivilisation bald darauf schon da. Das Vibrato macht ihm trotzdem keiner nach  ■ Von Klaus Frederking

„Definieren Sie Gewalt!“ kommandiert eine Stimme aus dem Off. Ein düster wabernder Gitarrenton geliert mit Sirenengeheul und dem pfeifenden Wind. „Sie müssen wissen, was Gewalt ist. Sie machen doch einen Film darüber.“ Eine zweite Gitarre, aggressiver und härter, setzt zu einer Melodie an, die man irgendwoher zu kennen glaubt, aber schon zu oft gehört hat, um zu wissen, woher.

Die kurze Phrase aus den ersten Sekunden von Wim Wenders' neuem Opus „Am Ende der Gewalt“ bildet den akustischen Nährboden für eine Grundstimmung der anonymen Bedrohung, die die Handlung durchzieht: Ein Filmproduzent gerät ins Fadenkreuz des FBI, entgeht einem Mordanschlag, wird als vermißt gemeldet und taucht unter. Mitglieder der Underclass, aus Lateinamerika stammende Gartenarbeiter und Putzfrauen, erweisen sich als die einzigen, denen er über den Weg trauen kann.

Irgendwann wird Ry Cooder, der amerikanische Gitarrist, der für den Soundtrack verantwortlich zeichnet, seine Handvoll Töne doch endlich zu einem richtigen Song ausweiten. Zu etwas, das man eine Komposition nennen könnte. Denkt man. Doch nichts dergleichen geschieht. Sie treten als ewiges Intro auf der Stelle, scheinen sich eher auflösen zu wollen in einen richtungslosen Zustand des puren Sounds.

Genauso will es Cooder. „Einen einzigen Ton spielen und durch ihn alles sagen“, das ist für ihn das höchste Stadium des Musikerdaseins. Seine Arbeit an Soundtracks, bei der man „sich nach der Landschaft in seinem Inneren richtet und sie nach außen kehrt“, hat ihm dazu am meisten Gelegenheit gegeben: eins zu werden mit der Musik – „du fühlst sie mehr, als daß du sie hörst.“

Generation Folkloreforschung

Dieses Gefühl durchströmte ihn auch im März vergangenen Jahres in Havanna: Im Studio der staatlichen Plattenfirma Egrem singen drei rüstige alte Herren, der älteste geht schon auf die 90 zu, einen „Son“ – jene nationale Liedform Kubas, die seit über einem halben Jahrhundert als „Rumba“ durch die Welt geht. Hier lehnen sich Instrumentierung und Arrangement an den noch älteren Stil der klassischen Ära des Genres an. Die Musiker sind in ihr aufgewachsen, einige haben sie sogar mitgeprägt. „Sie repräsentieren eine Zeit, die eigentlich vorüber ist“, schwärmt Cooder voller Hochachtung.

Nach gut einer Minute kommt sein Einsatz: Ein Ton segelt im Gleitflug in das Lied hinein und läßt sich zwischen zwei Zeilen nieder. Viel mehr bekommt man auch bis zum Ende nicht von seiner Bottleneckgitarre zu hören. Aber mehr braucht man auch nicht. Der Sound ist die Message: Der glattgeschliffene Flaschenhals, der, über den kleinen Finger gestülpt, auf den Saiten hochgeschoben wird und durch eine sofort wiedererkennbare Verbindung aus Vibrato und Druck auf die Saiten verrät: Das ist Ry Cooder. Keiner kann es so gut wie er.

Diese Mischung, das Gütesiegel Cooder und karibische Klänge, machten die CD des Buena Vista Social Club zum Weltmusikrenner des Jahres. Cooder verbeugt sich in Demut: „Du brauchst einige Zeit, bevor du überhaupt imstande bist, dich mit Leuten dieses Schlags hinzusetzen und zu spielen.“

Cooder ist Purist. Und Fan. „Das war schon so, als ich anfing, Gitarre zu spielen, da war ich vier oder fünf Jahre alt.“ Der kleine Ryland hockte vor dem Plattenspieler seiner Eltern. Aus ihm drang dieser Sound, der zum Schlüsselmotiv seines Lebens wurde: „Ich wünschte, ich könnte diesen Sound selber machen – damit ich ihn fühlen kann.“

Um welche Platten es sich gehandelt haben mag, dafür liefert seine spätere Karriere Indizien in Fülle. Mehr noch der Beruf seiner Eltern: Beide waren Folkloreforscher. In ihrem Schrank hätte man vermutlich eine ockerfarbene Schachtel mit sechs LPs gefunden, die in eben diesem Jahr, 1952, veröffentlicht worden war. Die „Anthology of American Folk Music“ versammelte Aufnahmen aus den zwanziger und dreißiger Jahren: von Bluessängern, deren kaum verständlicher Slang den wenigsten Weißen zu Ohren gekommen war, und von Folkbarden aus dem verarmten ländlichen Süden, die eine quietschende Fiedel spielten und von Fröschen sangen, die einander den Hof machten.

Soweit das prosperierende Mainstream-Amerika der Eisenhower-Ära diese Stücke überhaupt zur Kenntnis nahm, mußten sie ihm als Ausgeburt des Hinterwäldlertums erscheinen. Doch für die kleine, im Kalten Krieg überwinternde Nachhut des linken „Movement“ der dreißiger Jahre waren sie eine Offenbarung. „Wer sie damals anhörte“, schrieb kürzlich die englische Zeitschrift Folk Roots, „schloß einen Pakt mit der Vergangenheit.“ Sie waren den Idealen der Gründerväter von Freiheit und Gleichheit nah, zugleich ein Gegenstück zum Big Business der Gegenwart.

Ein Jahrzehnt später, im Blues- und Folkrevival der Sechziger, ging die Saat der Anthologie auf. Mit Coverversionen alter Stücke verkündeten die Seegers, Paxtons und Dylans die Botschaft eines besseren Lebens. Auf den Universitäten und in den Coffee-houses, den Treffpunkten der aufkeimenden Untergrundopposition gegen Vietnamkrieg und „Plastikgesellschaft“, formierte sich eine neue Gegenkultur.

In der Szene von Los Angeles tauchte ein Teenager auf, der bald als Wunderkind an der Gitarre die Runde machte. Besser als alle anderen hatte er sich den Sound draufgeschafft, der auf einigen auf der „Anthology“ enthaltenen Schellacks wie ein Echo einer anderen Ära herüberhallte. Vor allem den von Blind Willie Johnson, einem singenden Straßenprediger aus Texas. Der hatte 1927 in Dallas einen alten Spiritual aufgenommen: „Dark Was the Night, Cold Was the Ground“.

„Die Sache mit Johnson auf die Reihe zu kriegen war das Schwerste für mich“, erinnert sich Ry Cooder heute. Eine Instrumentalversion von Johnsons Aufnahme bildete den Glanzpunkt seiner ersten Solo-LP. Er verwendete das Motiv immer wieder – am ausgiebigsten, als er 1984 zum erstenmal für Wim Wenders arbeitete (für „Paris, Texas“). Bis dahin war Cooder der Rockgemeinde vor allem durch sein großartiges Gitarrenintro zu „Honky Tonk Woman“ von den Rolling Stones aufgefallen. Auf seinen LPs schloß er seinen eigenen Pakt mit der Vergangenheit. Er entstaubte die alten Songs, verpaßte ihnen frische, geradezu abenteuerlustige Arrangements. Eine Quetschkommode duelliert sich mit satten Gospelstimmen, eine Delta-Blues-Gitarre konterkariert einen Protestsong.

Besser als die Söhne können's die Väter

Dieses Verfahren hätte ihn zum genialen Vorläufer des Popeklektizismus der achtziger Jahre gemacht. Doch der emotionale Gehalt der Aufnahmen weist in die entgegengesetzte Richtung: Cooder wählte simple Songs mit eindeutigen, politisch gefärbten Aussagen („How Can a Poor Man Stand Such Times and Live“), wie sie auf der „Anthology“ einen Platz gefunden hätten. Oder vergessene Perlen aus der Geschichte des schwarzen urbanen Pop, wie sie heute auf einer ähnlich konzipierten Box landen würden. Auf jeden Fall Material von gestern oder vorgestern.

Für Cooder können's die Väter allemal besser als die Söhne. Und die, die es am besten konnten, sind nicht mehr am Leben. Ihre Namen rollen aus seinem Mund wie emphatische Beschwörungsformeln: Louis Armstrong, die Helden des Country Blues – „wer soll sie ersetzen?“ Auch die guten Songschreiber sind für Cooder ausgestorben. Männer, die die Gefühle von schwarzen Taxifahrern in einer Kleinstadt der Südstaaten in einfache Zeilen münzen konnten. „Wenn ich ein paar von denen zur Verfügung hätte, wäre ich gut im Geschäft“, stöhnte Cooder bereits in den Siebzigern. „Aber das Vokabular der Mittelschicht hat die Regie übernommen.“ Ach, wäre er doch nur ein anderer. Dann könnte er sich seine Songs selbst schreiben. Aber das ist sein Dilemma, vielleicht nicht nur sein musikalisches: „Als Weißer aus der Mittelschicht habe ich nicht unbedingt die spannendsten Erlebnisse, die ich in meiner Musik verwerten könnte.“

Ähnlich wie heute auch Bob Dylan zehrt Cooder von der Aura des Unzeitgemäßen. „In den USA ist heute alles so vorhergeplant, programmiert, sorgfältig gemanagt.“ Die Musik hatte das Wichtigste verloren: ihre „Reinheit“. „Da gibt es keine verborgenen Aspekte wie Karriere, Ruhm, die Öffentlichkeit, Geld“, erklärt er dieses Wort, das mit dieser Bedeutung auch in das Begleitheft der „Anthology“ Eingang gefunden hätte. Die auf ihr enthaltenen Musiker hätten davon allerdings vielleicht eine andere Sicht.

Schatzinseln jenseits des Marktes

Die Suche nach dem paradiesartigen Reich der Reinheit führte Cooder Mitte der Siebziger zu den Minoritäten im eigenen Land: den Tex-Mex-Polkas, zu der die ehrlichen, frommen, offenen, guten Gartenarbeiter bei Wim Wenders vielleicht schwofen würden. Und zu Gabby Pahinui, der Galionsfigur des Hawaii-Folk. Nach dessen Tod verlor für Cooder auch dieses Genre seinen reinen Kern. Um neue Schatzinseln zu finden, die – vermeintlich – nicht von den Gesetzen des Marktes und des Geldes infiziert worden waren, mußte er in immer weiterer Ferne suchen: auf Okinawa, in Mali, nun auf Kuba. „Sie haben dort noch nicht in vollem Maß die Invasion der Popkultur erlebt“, erklärt er.

Auf diesen Sessions, abgeschirmt von einer „überorganisierten, lärmenden Welt“, fand Cooder neue Väter, quickfidel und voller Vitalität, die ihm halfen auf seiner Suche nach dem verlorenen Ton. Allen voran Compay Segundo, der 89jährige Sänger und Gitarrist. „Ich habe ihm genau zugesehen. Er nimmt die Gitarre in die Hand“ – Cooders sonore Stimme wird langsamer und füllt sich mit Ehrfurcht –, „und bevor er sie spielt, ist es schon da. Es kommt von der Person, dann erst wird es durch das Instrument kanalisiert. Es ist Magie.“

Sprach's und widmete sich wieder der Suche nach dem Ton. Alles, was zu sagen ist, ist für ihn gesagt.