„Mal was schenken, das ist hier wichtig“

In der Tagesstätte des Sozialwerks Lazarus in Prenzlauer Berg zeigt sich die unfreiwillige Armen-Selbsthilfegesellschaft von morgen: mit viel Improvisation, feinen Unterschieden und unverhoffter Solidarität  ■ Aus Berlin Barbara Dribbusch

Das Hausglöckchen bimmelt wie vor einer Bescherung. Keiner grinst, als Helmut Krause seinen Kopf senkt und betet: „Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, danke dafür, was du uns bescherest hast.“ Der Herr Jesu beschert heute Kartoffelsuppe mit Würstel und Broccoli. Genauer gesagt, haben ein Großhändler und ein Schlachter die Zutaten gestiftet, Krause hat ehrenamtlich die Kartoffeln gepellt, und Frank Heckler wird nachher für drei Mark Stundenlohn die Spülmaschine einräumen. Geld darf hier keine Rolle spielen. Weil die Leute keins haben.

„Es ist ein Spiel, ein Kreis. Mal hast du was, dann wieder nicht“, sagt Krause. Mit seiner schwarzen Matte, dem Bart und dem Kreuz vor der Brust sieht er aus wie ein Heiliger. Jeden Werktag verbringt der 51jährige in der Armen-Tagesstätte des Christlichen Sozialwerks „Lazarus“ in Berlin-Prenzlauer Berg, wie ein bis zwei Dutzend anderer Stammgäste. Wie Frank Heckler, der in „gemeinnütziger Arbeit“ in der Küche werkelt. Wie Anke Schulz, die die Gäste nicht nur berät, sondern auch einkleidet und frisiert. „Wir bewegen uns in Richtung auf eine klassenlose Gesellschaft“, scherzen die Mitarbeiter. Das klingt lustig.

Helmut und der Stammtisch

Armut ist für Soziologen ein trauriges und abstraktes Thema. Hier, am Besucherstammtisch, wo sich acht Löffel in die Kartoffelsuppe senken, geht es um Konkretes. Einer schimpft auf die AOK. Die Kasse streitet sich mit dem Rententräger, wer für die fettsüchtige Schwiegermutter aufkommen soll, „dabei kann die alleine gar nicht mehr loofen“. Ein anderer schwenkt einen Wisch vom Sozialamt. Die Leute hier, meist Sozialhilfeempfänger, müssen Bewerbungsversuche bei Firmen nachweisen. Was dabei herauskommt, sind unwirsch aufgedrückte Stempel auf abgegriffenen Formularen: „Bringt doch nüscht“. Wer nimmt schon Sonderlinge, die zuviel brabbeln oder gar nichts reden und den Verdacht nicht entkräften können, daß sie zuviel trinken.

Am Stammtisch gilt die heimliche Regel: Jeder darf quatschen, was er will. Und niemand gilt als unhöflich, der nicht zuhört. „Hier fragt keiner genau nach“, sagt Krause, und es klingt wie ein Kompliment an alle.

Krause ist gelernter Maurer, geübter ABMler und erfahrener Langzeitarbeitsloser mit 880 Mark Arbeitslosengeld. Doch ohne Aufgabe ist er nicht, glücklicherweise: „Ich bin hier IM, inoffizieller Mitarbeiter.“ Die Runde grinst. Mit Eva macht Helmut „die Kartoffeln“ für bis zu 80 Esser täglich. Wehe, der Schäljob ist schon von anderen getan. Abends räumen die beiden auf und stellen die Stühle hoch.

„Die so reingetorkelt kommen und einen Rand machen, die wollen wir hier nicht“, meint Krause, „wer Geld zum Trinken hat, der hat auch Geld, sein Essen zu bezahlen.“ Zwei Drittel der Besucher haben noch eine feste Bleibe, aber keinen Job, kein Geld und keine Familie mehr. Im „Lazarus“ gibt es kostenlos Frühstück und Mittagessen, außerdem eine Dusche, Waschmaschine und Kleiderkammer. Wer eine rauchen will, muß vor die Tür gehen, wer seinen Flachmann hinuntergluckern will, zwei Ecken weiter. Das sorgt für eine gewisse Bewegung.

„Das sind meine Freunde hier, der Wolfgang, die Eva“ – Helmut zeigt in die Runde. Eva Treptes Arm in Gips kündet von ihrem Verantwortungsbewußtsein für „die Einrichtung“. Ein Tablett mit Schmalzstullen hat die 61jährige schleppen wollen, von der Tagesstätte bis zum Weihnachtsmarkt. An einem Hydranten stolperte sie. Das Tablett hielt sie eisern hoch. Die Schmalzstullen blieben heil, der Arm war gebrochen. „Ich hab‘ den Doktor gleich gefragt, ob ich auch mit dem Gips Kartoffeln schälen kann.“ Manchmal schenkt Helmut ihr ein paar Blumen.

Gegenseitige Hilfe ist der einzige Luxus, der nichts kosten muß. René hat Hilmar ein paar Kohlen überlassen. Eine Nachbarin hat 20 Säcke Holz gestiftet. Marie hat Helmut eine bessere Wohnung besorgt, mit Dusche und Innenklo. Bisher ist er noch nicht eingezogen. Zuschußanträge und Behördengänge sind nicht seine Sache. Lieber geht er sonntags in die Kirche, das baut auf. „Der Herr geht vor Dir und weist Dir den rechten Weg“, steht auf einem Poster an der Wand. „Wir sind 'n Kollektiv“, meint Eva, „wie eine Familie“, bekräftigt Helmut. „Man muß mit den Leuten reden“, sagt Frank.

Frank und die kleine Küche

Den Job, den Frank Heckler macht, hätte auch Helmut gern. Genauer gesagt, die drei Mark Stundenlohn. Der Dachdecker mit der Sportlerfigur füllt Klopapier nach, wechselt die Geschirrtücher und reinigt mit dem „Dampf- Profi“ die Kacheln. Vier Stunden am Tag, macht 180 Mark im Monat. Die kommen zur Sozialhilfe dazu. „GZA“ nennt sich das, gemeinnützige Arbeit. „Im Verhältnis zu den Leuten hier geht's mir gut“, versichert der 37jährige, „ich habe einen starken Willen.“

Heckler hilft schon morgens. Zum Frühstück sieht es im Gastraum aus wie im Hotel garni. Die Besucher schaben in gespendeten Diätmargarine-Töpfchen und verstreichen Aprikosenkonfitüre aus Alutiegelchen. Es gibt viel Abgepacktes in Berliner Krankenhäusern und Hotels. Hier landet, was übrigbleibt.

Die Küche ist eng wie eine Kombüse. An den Einfachfenstern rinnt das Kondenswasser herunter. Es gibt nur eine Kochstelle für den 120-Liter-Kessel und folgerichtig immer Eintopf. Die Kreativität des Kochs hängt von den Spenden ab, die die Damen von der „Berliner Tafel“ anschleppen. Gemüse vom Großmarkt, Brot aus Großbäckereien, Überbleibsel größerer Kongresse. Zur Zeit gibt es Broccoli bis zum Abwinken, manchmal stiftet ein Schlachter Knochen. „Die kochen wir aus, das Fleisch schäle ich ab“, erzählt Frank, „weggeschmissen wird nichts.“ Nur mit den monatlichen 800 Mark Essensgeld vom Bezirksamt käme der Koch nicht weit.

Als Küchenhelfer arbeitet noch der schmächtige Harald K. mit. Der 41jährige wurde vom Gericht zu 30 Tagen „gemeinnütziger Arbeit“ verdonnert, weil er an einem Verkehrsunfall eine Mitschuld trägt. „Na ja, es schadet nicht“, meint der Handwerksmeister verlegen und wischt mit dem Geschirrtuch über das Buffet. „Die Leute hier sind sachlich.“ Wie viele in der Tagesstätte war auch Frank Heckler früher alkoholsüchtig und im Knast: „Ich weiß, wie es einem danach so geht.“ Jetzt spielt er mit den Gästen „Mensch ärgere Dich nicht“. „Meinen alten Freundeskreis aus der Alkohol- und Drogenzeit habe ich sausenlassen.“ Die Besucher sieht er als eine Art Klienten, das grenzt ab. Heckler würde seinen Job gerne auf sechs Stunden täglich aufstocken. „Aber da spielt das Sozialamt nicht mit.“ Er bleibt oft länger, als er müßte. So wie Anke.

Anke und die Kleiderkammer

Anke Schulz kommt. Die zierliche Diplompsychologin mit wilden roten Locken begrüßt jeden mit Handschlag. „Eva, du hast heut' aber was Flottes an“. „Hilmar, wie geht's dir? Du siehst besser aus“. Wohngemeinschafts-Atmosphäre zieht ein. „Das wichtigste war zu lernen, wie man drei Leuten gleichzeitig zuhört“, erklärt Anke, deren ABM gerade ein letztes Mal verlängert wurde. Die 35jährige berät nicht nur in Sozialamtsfragen, sondern reicht den Leuten auch mal frische Klamotten aus der Kleiderkammer in die Dusche. Im Teamzimmer hat sie eine Frisierstube eingerichtet. Mit Friseurumhang, Lockenstab und Schaumfestiger.

Wenn Anke Schulz sagt, „die Leute möchten gebraucht werden“, spricht sie auch von sich selbst. Sie war lange arbeitslos, die Chancen stehen nicht gut für eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern. Hier möchte sie jetzt „am liebsten nicht mehr weg“. Sicher, 1.600 Mark netto seien nicht viel; sie hat eine 24-Stunden-Stelle. Die Mitarbeiter können jedoch kostenlos essen, und bevor der Broccoli verdirbt, nehmen die Betreuer was mit nach Hause.

Als Schulz vom Arbeitsamt zur Tagesstätte geschickt wurde, „hat man mir gesagt, das sei harte Arbeit. Mit Leuten am Rand der Gesellschaft. Die riechen nicht gut und sind ungepflegt.“ Jetzt ist die Tagesstätte für sie „wie eine zweite Familie“. Es ist das Verdienst der Kleiderkammer, daß keiner schlecht riechen und zerrissen herumlaufen muß. In dem schmalen Raum voller gespendeter Klamotten gibt es nicht nur Wintermäntel und Schuhe, sondern auch das Gefühl, einmal aussuchen zu dürfen.

„Hier muß keiner herumlaufen wie 'ne Schlampe“, versichert Helmut. Er ist probeweise in eine Lederhose geschlüpft. Paßt. Ein Gast nimmt einen Wildledermantel mit. Ein anderer läßt sich Schuhe geben, in denen noch Spanner stecken. An der Wand hängt eine Meßanweisung: „Stellen Sie Ihre Füße auf ein Blatt Papier und zeichnen Sie die Umrisse nach...“ Die richtige Schuhgröße sollte es schon sein.

Ein Junge ist nach dem Frühstück draußen in eine Pfütze gefallen. Kein Problem: Eine Besucherin behängt den Kleinen mit Pullis: „Deine Mutter wird Augen machen.“ „Auch mal was schenken, das ist hier wichtig“, betont Anke.

Das Ausmaß der Armut habe ihn überrascht, hat Ankes Kollege heute einem Radioreporter ins Mikrophon gesprochen. Anke, er und drei andere Kolleginnen auf ABM und Lohnkostenzuschuß (LKZ) vom Arbeitsamt verlieren im nächsten Jahr ihren Job. Bei Anke rutscht das Arbeitslosengeld dann auf die Armutsgrenze. „Wir können uns am Ende hier selbst einreihen“, ulken die Mitarbeiter, „aber wir wissen wenigstens, wie es geht.“

Am Morgen hatte Ankes Kollege noch schnell im Lukasevangelium die Legende von Lazarus nachgeschlagen – falls vom Radio jemand fragt. Lazarus war der Kranke, der im Himmel landete. Der Reiche, vor dessen Tür er gelegen hatte wie ein Hund, schmorte am Ende in der Hölle. Auf Gerechtigkeit im Jenseits möchte hier aber niemand warten. „Wir kommen doch auch wegen der Unterhaltung her“, sagt Eva Trepte. Und das meint sie ernst.