„Hölle Nummer 5“

■ Ein Gespräch mit dem führenden kurdischen Exilpolitiker und ehemaligen Bürgermeister von Diyarbakir, Mehdi Zana. Gleichzeitig eine Besprechung seines Berichts aus türkischer Haft

Wer nichts zu essen hat, bekommt Hunger. Diese banale Erkenntnis wird einem Gefangenen im Hungerstreik schmerzlich bewußt. „Ich sehe nur noch Essen vor meinem inneren Auge“, schreibt Mehdi Zana im Gefängnis von Diyarbakir: „Nierchen, Milz, Schafsbockhoden aus dem Backofen. Der Duft steigt in die Nase. Sahne, Eis, Gemüse und Fleisch, viel Knoblauch, heiß gebacken, dann ein gut gezogener Tee. Mein Hals ist ausgetrocknet. Schnell etwas Wasser trinken. Ich beginne zu zittern und lege mich hin.“

Über 15 Jahre hat der ehemalige Bürgermeister von Diyarbakir – der heimlichen Hauptstadt Türkisch-Kurdistans – in Gefängnissen verbracht. Er und seine immer noch inhaftierte Frau, die Parlamentsabgeordnete Leyla Zana, gehören heute zu den prominentesten Dissidenten der Türkischen Republik. Der Grund: Beide treten für die Rechte der Kurden ein. Mehdi Zana wurde erstmals 1980 von den putschenden Militärs verhaftet – aus seinem Bürgermeisteramt heraus, Leyla Zana 1994 in der „Großen Türkischen Nationalversammlung“, weil sie während ihrer Antrittsrede kurdisch gesprochen hatte. Zum Interview erscheint der mittlerweile 57jährige Mehdi Zana überpünktlich. Der Mann steht unter Termindruck. Erst diverse politische Auftritte hierzulande, dann mit dem Flieger nach Paris zu den Kindern und schließlich nach Schweden, dessen Regierung ihm – im Gegensatzu zu anderen in Europa – Asyl gewährt.

Zana antwortet routiniert, Persönliches gibt er nicht preis. Seiner Frau ginge es „gut“, sagt er scheinbar gelassen auf Fragen nach der wegen „separatistischer Tätigkeit“ zu 15 Jahren Gefängnis verurteilten Leyla Zana. Nein, besuchen könne er sie nicht, „dann würde ja auch ich wieder im Gefängnis landen“, erklärt Mehdi Zana lachend.

Lieber spricht Mehdi Zana über die Verhältnisse in der Türkei. Die Türkische Republik sei „ein faschistischer Staat“, die Militärs – die eigentlichen Herrscher im Land – wollten „das kurdische Volk vernichten“. Zanas Türkeibild ist klar wie ein Scherenschnitt: hier das türkische Regime, dort die unterdrückten Kurden. Kritik an der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) – zu der Zana nie gehörte – und am Führungsstil von deren Vorsitzenden, Abdullah (Apo) Öcalan ist für ihn deshalb nicht opportun.

Bizarr wird diese Strategie, als das Gespräch auf den PKK-Dissidenten Selim Cürükkaya kommt. Er habe gemeinsam mit ihm im Gefängnis gesessen, berichtet Zana. Der damalige PKK-Kommandant habe ihm von seinen Plänen erzählt, ein Buch über die „Diktatur des Abdullah Öcalan“ zu schreiben. Er, Zana, habe abgeraten. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt, denn ein Buch über Folter und Unterdrückung innerhalb der PKK würde „den Feinden der Kurden helfen“. Gelesen habe er Cürükkayas Werk bis heute nicht, bekennt Zana. Aber: „Ich habe gehört, was drin steht. Ich glaube, es ist übertrieben. Das sind Erfindungen des Westens, der Verbündeten der Türkei.“

Dabei läßt sich aus Zanas eigenem Buch ein differenzierteres Verhältnis zur PKK herauslesen. So kritisiert er, daß sich „die Kameraden der PKK“ während des gemeinsamen Hungerstreiks in ihrem Geheimcode unterhalten, „weil sie meinen, der Kampf erfordere es. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren.“ Ein anderes Mal hindert er zwei junge gefangene PKKler daran, sich aus Parteigehorsam selbst zu verbrennen.

Doch Zanas Loyalität zu Organisationen, mit deren Zielen und Vorgehensweisen er zumindest nicht hundertprozentig übereinstimmt, hat ihren Hintergrund in den Erfahrungen aus dem Gefängnis: Zentrale Überlebensstrategie der Gegangenen ist der Zusammenhalt, unabhängig davon, zu welcher Organisation sie gehören. Wenn die Wärter den Insassen einer Zelle als Schikane über Tage nichts zu essen geben, teilen die Mitgefangenen ihr karges Mahl mit ihnen. Wird Neuankömmlingen ihre gesamte Habe abgenommen, sammeln die Gefangenen untereinander Kleidung für sie. Jede Zelle hat einen Sprecher, der Anliegen der Gefangenen artikuliert. Deshalb ist er den meist sadistischen Launen der Wächter ausgesetzt – muß „exerzieren“: Unter Stiefeltritten über den Hof kriechen, den Kopf in den Abwasserkanal tauchen, stundenlang in einem mit Fäkalien gefüllten Becken ausharren, Kot essen... Um diese Folter noch irgendwie ertragbar zu halten, routiert das „Amt“ des Zellensprechers.

Solche – in Zanas Buch schockierend detailliert beschriebenen – Erfahrungen lassen Differenzen unter den Gefangenen verschwinden. Die Gesichtswelt wird zum Scherenschnitt: Hier die Gefangenen, dort die Wärter – oder: hier die Kurden, dort das türkische Regime. Im Krieg wird nicht differenziert.

Mehdi Zanas Unversöhnlichkeit ist Ergebnis dieser Erfahrungen. Verantwortlich dafür sind türkische Politiker und Militärs. Thomas Dreger

Mehdi Zana: „Hölle Nr. 5, Tagebuch aus einem türkischen Gefängnis“, herausgegeben von Gerd Schumann, Vorwort von Elie Wiesel, Verlag die Werkstatt, Göttingen 1997, 288 Seiten, 34 DM