Zu Weihnachten kommen die Politiker

Mehr als 80.000 Menschen wurden bei den Erdstößen vom Herbst in Mittelitalien obdachlos. Die meisten werden noch Jahre in Notunterkünften leben. Helfer kommen und lassen sich filmen – die Spenden sind oft unsinnig  ■ Aus Umbrien Werner Raith

Der Blick Maria Marta Merignas ist nicht sonderlich freundlich. „Fremd hier?“ fragt sie, „Regierungsinspektor, Politiker oder Journalist?“ Offenbar sind derzeit hier in Nocera Umbra nur diese drei Kategorien vorstellbar. Ja, Journalist. „Und Ausländer dazu, ja?“ Ja. „Dann wollen Sie wohl filmen, wie Ihre Leute Weihnachtspäckchen mit der Aufschrift Ihres Senders verteilen, eh?“ Sie dreht sich um. „Hauen Sie ab, wir haben genug von euch.“

Nanu. Weder sind da Helfer zugange, noch Päckchen im Schwange. Maria Marta bleibt stehen. „Keine Päckchen, keine Fernsehaufnahmen, keine Fotos?“ Sie schüttelt den Kopf. „Ausländische Journalisten wollen in diesen Tagen doch nur ihre eigene Hilfsbereitschaft und italienische Unfähigkeit filmen“, klärt sie mich im zentralen Versorgungszelt von Nocera auf. Dort, inmitten von vier Dutzend Wohncontainern unterhalb der gesperrten zusammengestürzten Altstadt, ist eine Art Lebensmitte für die Gemeinschaft der Erdbebenopfer entstanden. Köche und Rotkreuzhelfer, Sozialarbeiter und auch einige Wasserinstallateure wieseln hin und her.

Seit den verheerenden Erdstößen vom September und Oktober 1997 leistet Maria Marta freiwillig und unentgeltlich Hilfe. Man kann ihre Bitterkeit nachfühlen, auch wenn sie überzieht. „Ohne die Hilfe vom Ausland“, räumt sie denn auch ein, „wären wir besonders gleich zu Anfang schwer eingebrochen.“ Aber gerade die damalige Hilfe hat sich seinerzeit eher im Stillen vollzogen – „Die ausländischen Filmteams wollten wochenlang ja nur einstürzende Kirchtürme drehen, sonst nichts.“

Da nun nichts mehr einstürzt und man zum Jahresende doch irgendwas über die Katastrophe bringen will, „filmen sie auf Biegen und Brechen Bescherungen“. Als wäre alles nur eine Kulisse für die eigene Nächstenliebe, „möchten sie beweisen, wie schlecht es den Menschen hier im allgemeinen geht, und wie gut denen, die in den Genuß der internationalen Hilfsbereitschaft gekommen sind.“

Dabei stimmt beides nicht – weder geht es den Menschen hier, an den Umständen gemessen, so abgrundtief schlecht, noch ist die ausländische Hilfe die einzige Überlebensgarantie. Einige Fernsehteams hat Maria Marta gleich mal unsterblich blamiert, indem sie vor laufender Kamera die schön eingewickelten Päckchen aufgerissen hat – meist waren sie halbleer, einige enthielten alte Lebkuchen.

„Natürlich sind das Ausnahmen, aber auch die Hilfe der ehrlicheren Spender ist eher konfus denn wirkungsvoll.“ Gianmarco D'Ambrogio, einer der Depotverwalter, zeigt, was da alles ankommt: „Schuhe, Schuhe, Schuhe und Kinderkleidung – wir haben so viel davon, daß wir alle hier mit zehn Paar Tretern und ebenso vielen Kleidchen ausstatten könnten. Dabei brauchen wir viel nötiger funktionierende Wasserhähne, Kleintraktoren, Pumpen und Elektrokabel – Geld, um in diesen Notdörfern die Infrastruktur auszubauen.“ Die Wellblechhütten, die Italiens Regierung teils neu geordert, zum größeren Teil aber aus alten Beständen aus früheren Erdbeben- oder Überschwemmungsgebieten hat anfahren lassen, sind nur zum Teil intakt – Türgriffe fehlen, Dächer sind defekt, Kurzschlüsse in den Steckdosen.

Doch auch einen anderen Effekt beobachten die „Terremotati“ in diesen Tagen. Nachdem Presse und TV wochenlang von der Not in Umbrien berichtet haben, „behaupten plötzlich alle, daß wir hier uns in famoser Weise selbst organisiert haben – als bräuchten wir gar keine Hilfen mehr“.

Tatsächlich werden die – in Wirklichkeit eher wenigen – Christbäume hundertmal als Beleg ungebrochenen Jahresablaufs gefilmt, setzen sich TV-Reporter im kurzärmeligen Hemd in Wohnwagen oder Zelte, als „herrschten darin 25 Grad Wärme“, wie Simona Cappone bitter klagt, die unschuldig ihren „noch nicht einmal mit einer Notheizung versorgten Container“ für eine derart getrickste Aufnahme zur Verfügung gestellt hatte.

Besonders wenn Politiker ankommen, „gehen regelrechte virtuelle Orgien ab“, hat Bürgermeister Antonio Petruzzi beobachtet. Maria Marta schildert solche Besuche so: „Rein in einen Vorzeige- Container, schnell an den noch immer bewohnten saukalten Zelten vorbei, die Hand eines 80jährigen Mütterchens drücken, das sowieso auf jede Frage nur ,gut, gut‘ sagt, danach Besuch bei einem Ehepaar, das trotz der Einsturzgefahr den Bauerhof weiter bewirtschaftet, ,tüchtig, tüchtig‘, und dann rein ins Mensa-Zelt, wo die Kofferträger der hohen Damen und Herren für besonders feines Essen gesorgt haben.“

In Foligno wie in Assisi, in Colfiorito wie in Sellano, in Serravalle wie in Cerchiano haben sich VIPs aller Schattierungen angesagt: Ministerpräsident Romano Prodi und sein Vize Veltroni, PDS-Chef Massimo D'Alema und Gewerkschaftsboß Cofferati, dazu natürlich auch die Oppositionsführer Silvio Berlusconi und Gianfranco Fini. Zuletzt hat jetzt auch noch der kränkelnde Papst Johannes Paul II. während des Weihnachtssegens Urbi et Orbi eine Stippvisite in Annifo angesagt, einem Dörflein in Ostumbrien – und damit mächtigen Ärger in den benachbarten Marken ausgelöst, die sich übergangen fühlen; nun besucht er auch die Nachbarregion.

Fürs Essen werden an solchen Tagen Chefköche eingeflogen. Die kredenzen dann den VIPs und meist handverlesenen Opfern, dem Anlaß angemessen natürlich nicht Kaviar und Champagner, sondern eher rustikale Gerichte: Lasagne, Linsen, Stockfisch und Polenta. „Fehlt gerade noch, daß sie das Menü ,Weihnachtsmahl nach Erdbebenart‘ taufen“, murrt Maria Marta.

Im Grunde wissen aber auch die Menschen in den Erdbebengebieten nicht so recht, welche Gefühle sie denn nun haben sollen. Die Umbrer sind eine stolze Sorte Mensch; als Bettler wollen sie nicht auftreten. Insofern ist es auch nicht so falsch, wenn die Medien über die gelungene Selbstorganisation der Erdbebengeschädigten berichten. Zum Zeichen ihres Wiederaufbauwillens haben die Leute aus Nocera zum Beispiel den Kirchturm ihrer Stadt, den die ganze Welt im Fernsehen live beim Einsturz erlebt hat, fürs Fest im Handumdrehen neu entstehen lassen – als schwebende Lichterkette, genau in den Umrissen des zerbröselten Campanile.

Andererseits wissen hier alle, daß die Probleme nicht mit der Beleuchtung gelöst werden und auch nicht dadurch, daß man diesen Winter so recht und schlecht hinter sich bringt. Erfrieren wird niemand; während des Frostes und des Schneefalls in den vergangenen Wochen haben sich die Notunterkünfte einigermaßen resistent erwiesen. „Die Frage ist eher die fernere Zukunft“, sagt Bürgermeister Antonio Petruzzi, „ob es nämlich gelingt, den Leuten hier in absehbarer Zeit wieder wirkliche Häuser zur Verfügung zu stellen.“ Das schlimme Beispiel des Belice- Tals auf Sizilien wirkt nach – dort leben manche Familien seit der Erdbebenkatastrophe von 1968 noch immer in Notunterkünften.

„Aber nein“, widerspricht Fulvio Maltempi, Bürgermeister des ebenfalls schwer betroffenen Sellano, „wir werden es halten wie die Menschen in Friaul vor zwanzig Jahren: Dort haben schon drei Jahre nach dem Beben die letzten Opfer ihre Notquartiere verlassen können.“ Seine schönen Worte stoßen bei den meisten seiner Kollegen allerdings auf Skepsis – schließlich gehört der Mann der linksliberalen Regierungskoalition „Olivenbaum“ an, und die versucht allüberall den Eindruck zu erwecken, unter ihrer Ägide funktioniere eben alles besser.

Daß das eine Illusion ist, behauptet allerdings nicht nur der regierungsfeindliche ehemalige Chefredakteur des Berlusconi- Blattes Il Giornale, Vittorio Feltri, in einer großen Reportage über die Lage der Erdbebengebiete. „Es ist lediglich so, daß die Presse, überwiegend linksliberal orientiert, jetzt nicht mehr so kritisch übers Versagen der Regierung berichtet.“ Maria Marta, obwohl aktives Mitglied der mitregierenden Linksdemokraten, sieht das auch so: „Die Presse macht sich derzeit viel zu sehr zum Sprachrohr der Regierung und kümmert sich nicht wirklich um die Opfer.“

Angst macht den Menschen hier im Camp vor allem eines: daß die Regierung, um sich international zu präsentieren, zuallererst an die Restaurierung der beschädigten Kunstwerke in den Kirchen, vor allem in Assisi, denkt, und erst später an den Wiederaufbau ihrer Häuser. Doch „diese Reihenfolge macht durchaus Sinn“, sagt Bernardo Persiani, einer der Schadensschätzer der Region, der an seinen freien Tagen auch die Erdbebenopfer in bürokratischen Fragen berät, „wenngleich die Leute das nicht so gerne einsehen: Die wichtigste Ressource der Region ist doch der Fremdenverkehr. Nur über ihn kann wieder Geld hierher fließen.“ Dazu kommt, daß die Region nun nicht einfach wiederaufbauen, sondern die Erdbebensicherheit auf ein neues Fundament stellen will – schließlich waren die meisten Häuser hier schon einmal wieder aufgebaut worden, nach einem Beben in den 70er Jahren, „doch offenbar mit vielen Mängeln behaftet“, so Persiani. Für die Wiederherstellung von fast 20.000 Gebäuden sollen nun zuerst Experimente durchgeführt werden – und das wird dauern.