1997: Aufsteiger und Aussteiger – Die Hits und Nieten des Jahres

Hamburg, die Museumsstadt: Gleich zwei wurden zu Jahresbeginn in der Hansestadt neu eröffnet. Das Museum der Arbeit und die Galerie der Gegenwart wurden trotz schwindender Etats realisiert, obwohl weder für die Darstellung des Arbeitsalltags und seiner Geschlechterrollen noch für die Bilder und Objekte der Kunst nach 1960 besondere Begeisterung bei den Regierenden festzustellen war.

Mit zahlreichen Aktivitäten und lebendiger Vermittlung fast vergesfrühere ehemalige Fabrik in der Barmbeker Maurienstraße seit dem 5. Januar der Ort, an dem klar wird, daß Handel, Produktion und Arbeitsalltag ihre eigenen, gewichtigen Geschichten haben.

Doch die schöne, unverbindliche Hochkunst wurde größer gefeiert. Zehntausende von flanierenden BürgerInnen besichtigten in den Eröffnungstagen Mitte Februar mit Gefallen den auf rotem Pyramidenstumpf errichteten hellen Kubus des Erweiterungsbaus der Kunsthalle und scherten sich wenig um den mißlungenen Staatsakt der Einweihung und die Kritik der Fachleute an Architektur und Nutzungskomfort. Die ausschließlich am Quadrat orientierte Setzung des Architekten O.M. Ungers bescherten der Stadt einen Bau mit schönem, wenn auch nutzlosem Innenhof und durchgängig für die Kunst zu niedrigen Räumen.

In beiden Häusern allerdings mußte Ende des Jahres leider festgestellt werden, daß weniger Besucher kamen als erwartet.

Hamburg hat ein Herz für Verbrecher, davon ist Amtsrichter Ronald Schill überzeugt. Er aber hat es nicht. Das verkündet „Richter Gnadenlos“zumeist in Form scharfer Urteile. Die flankiert er mit radikalen rechtspolitischen Thesen, die er im Gerichtssaal, bevorzugt aber auch vor Fernsehkameras von sich gibt. Im Sommer bekannte Schill gar, nicht gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe, sprich also dafür zu sein. Schill hat zu allem etwas zu sagen, was im entferntesten als ein Problem der „inneren Sicherheit“auszugeben ist, und fand damit im Wahlkampf reichlich Gehör. Auch für das Asylrecht und die Drogenpolitik wähnt er sich als der rechte Fachmann.

Das kam nicht gut. Als Anti-Filz-Truppe war die Statt Partei angetreten und dann sowas: Die Statt-Abgeordnete Rotraut Meyer-Verheyen beschäftigte ihren von der Bürgerschaft bezahlten Assistenten gleichzeitig in ihrer Firma Hausmeyer Hausverwaltung. Zufällig waren beide Tätigkeiten auch im Souterrain ihres Hauses angesiedelt. Und zufällig stand das im Januar 1997 alles in der taz. Nicht zufällig ist eine Vermischung von politischem Mandat und Privatgeschäften nach dem Abgeordnetengesetz nicht erlaubt. Meyer-Verheyen stritt alles ab, legte ihr Mandat jedoch nieder und trat aus der Statt Partei aus, bevor die sie rauswerfen konnte.

Zum ersten Mal wird im September von der Innenbehörde ein „partielles politisches Betätigungsverbot“nach dem Ausländergesetz gegen einen in Hamburg lebenden Flüchtling ausgesprochen. Opfer des Maulkorb-Erlasses ist der seit vier Jahren in der Hansestadt lebende Europasprecher der peruanischen Tupac-Amaru-Rebellen (MRTA), Isaac Velazco. Velazco hatte sich öffentlich zur Geiselnahme von zahlreichen Diplomaten und Politikern in der japanischen Botschaft in Lima Ende 1996 durch seine politischen KampfgefährtInnen geäußert. Der Peruaner hat gegen das Redeverbot Beschwerde eingelegt, über die bis heute nicht entschieden ist.

Flauten schätzt Andrea Hoeppner nicht. Nur wenn der Wind ordentlich weht, fühlt sich die Profi-Surferin richtig wohl. Daß die 28jährige auch bei schwächeren Brisen gut zurechtkommt, bewies sie Anfang Oktober. Da gewann die Hamburgerin ihr wieder einmal fast windstilles Heimrennen vor Sylt. Vor allem aufgrund dieses Erfolges – es war ihr erster Worldcup-Sieg – wurde Hoeppner in der Saisonwertung Vierte, ihre beste Plazierung überhaupt. Kommendes Jahr legt die Brett-Könnerin nach: Im September startet Andrea Hoeppner zusammen mit Sigrid Rondelez beim 4700 Kilometer langen Trans-Atlantik-Rennen von New York nach England.

Knutschende Männer hat das Kino längst in seinen Olymp gehievt. Fummelnde Frauen bleiben ein Fall für das Sonderspätspartenaussätzigenprogramm. Wenn es nach Angelina Maccarone (31) ginge, wäre damit Schluß. Die Drehbuchautorin präsentierte auf dem Filmfest ihr Regiedebüt Alles wird gut. Ihr Beweis, daß Mainstream und Lesben-Screwball-Comedys sich durchaus die Händchen reichen können, gefiel vielen so gut, daß sie ihn gleich auf ihre Wunschliste für die Lesbisch-Schwulen-Filmtage setzten. Er wurde erfüllt. Und für die ganz Artigen wird die Frauen-Klamotte um zwei Afro-Deutsche und den ganz alltäglichen Rassenhaß bestimmt noch einmal im TV gezeigt.

Am Abend des 21. September um 20.05 Uhr hielt die Nation die Luft an. Henning Voscherau, Hamburgs Erster Bürgermeister, zog in der ARD-Tagesschau eine Erklärung aus der Tasche und las: „Meine Schmerzgrenze ist deutlich unterschritten.“Unter seiner Führung mußte die SPD bei den Bürgerschaftswahlen mit nur 36,2 Prozent (1993: 40,4) ihr schlechtestes Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte hinnehmen. Und weil Voscherau schon vor dem Urnengang angekündigt hatte, er werde das Volk mit seinem Rücktritt strafen, falls es ihm nicht in ausreichender Anzahl auf dem Stimmzettel seine Zuneigung bekunden werde, nahm er seinen Hut.

Die SPD war geschockt. Dann aber wurde beschlossen, daß das Volk die Sozis auch auf niedrigerem Niveau lieben darf und das Wählervotum in Demut ertragen werden muß. In einer Geschwindigkeit, die man der behäbigen Hamburger Sozialdemokratie im allgemeinen nicht zutraut, wurde ein Nachfolger bestimmt: Der bisherige Finanzsenator und Parteilinke Ortwin Runde wurde vom mächtigen rechten Partei-Fürsten und ewigen Bausenator Eugen Wagner auf den Schild gehoben.

Erbost darüber, daß man ihn unsanft übergangen hatte, trat Umweltsenator Fritz Vahrenholt, der sich als natürlichen Nachfolger Voscheraus gesehen hatte, ebenfalls zurück. Die beleidigte Diva ist inzwischen in den Vorstand der Shell AG übergelaufen. Mit ihm verschwand der letzte ernsthafte SPD-Widerstand gegen eine rot-grüne Koalition. Votierten die Genossen noch im Frühjahr für Voscherau und sein Law-and-Order-Programm, sprachen sie sich nun fast einmütig für Verhandlungen mit den Grünen aus.

Im Hochgeschwindigkeitstempo rasten SPD und GAL durch die Koalitionsverhandlungen. Der neue Chef, die ostfriesische Frohnatur Runde, hielt das Stöckchen, und fast immer sprangen die Grünen drüber: Elbvertiefung, Hafenerweiterung, DASA-Ausbau. Richtigen Krach gab's lediglich um das Finanzressort und die Migrationspolitik. Die SPD setzte sich allerdings auch hier weitestgehend durch. Zur Versüßung der bitteren Pillen genehmigten die Sozis der GAL die „Hamburger Ehe“für lesbische und schwule Paare. Außerdem sagte die SPD zu, das AKW Brunsbüttel vielleicht abschalten zu wollen.

„Wir haben einen Fuß in der Tür“, faßte GAL-Chefunterhändlerin Krista Sager die grünen Verhandlungserfolge zusammen. Alles andere werde sich in der praktischen Politik schon finden. Dennoch stimmte die grüne Mitgliederversammlung letztlich zu, nach 15 Jahren auf den Oppositionsbänken nun aber mitzuregieren. „Die Braut ist häßlich, aber geheiratet werden muß sie doch“, sagte der Basis-GALier Klaus Kronberg stellvertretend für viele.

Somit ging für drei GALierInnen endlich der Traum vom Senatorensessel in Erfüllung: Am 12. November sagten Krista Sager (Wissenschaft, Frauen), Willfried Maier (Stadtentwicklung, Bundesrat, Europa) und Alexander Porschke (Umwelt) „Ich schwöre“, blickten staatstragend in die Kameras und nahmen auf der Senatsbank Platz .

„Wir wollen trauern“, sang Christoph Schlingensief mit einer ständig wachsenden Fan-Gemeinde in seiner Bahnhofsmission, aber Tatsache ist, daß der Filmer und Theatermacher uns in diesem Jahr viel Freude gemacht hat. Nachdem er auf der documenta für seine Performance 48 Stunden Überleben für Deutschland verhaftet wurde und in Berlin den Letzten Neuen Deutschen Film abgedreht hatte, kam der charismatische Entertainer auf Einladung des Deutschen Schauspielhauses für die Passion Impossible – 7 Tage Notruf für Deutschland nach Hamburg. Und bewies, woran niemand mehr geglaubt hatte: daß Theater noch auf die Straße gehen kann und, noch wichtiger, die Straße ins Theater.

Sportlich reichte es nicht zu einem Spitzenplatz. Eine Bestleistung stellte der FC St. Pauli dennoch auf. Kein deutscher Proficlub verschliß mehr Trainer. Vier Übungsleiter – Uli Maslo, Klaus-Peter Nemet, Eckhard Krautzun und Gerhard Kleppinger – versuch(t)en sich am abgestürzten Erstligisten. Präsident Heinz Weisener war auch sonst nach Veränderung. Der 69jährige setzte seinen Vize, Christian Hinzpeter, vor die Tür: „Zu viele Alleingänge.“An anderer Stelle bewies der angeblich „etwas andere Verein“Kontinuität: Die Spielstätte ist allen Protesten zum Trotz weiterhin dem langjährigen Ex-Präsidenten und NSDAP-Mitglied Wilhelm Koch gewidmet.

Kann es Tagesthemen ohne unser aller Sabine Christiansen geben? jaulte die Nation, allen voran Hamburg. Wo doch die ganze Stadt Anteil genommen hatte, als sie das arme Mischlingshündlein Mona bei sich aufnahm! Und dann sollte irgendeine Gabi Bauer kommen, die behauptete, sie habe von Natur aus nun mal kein Lampenfieber! Ja, wie sollte unsereins denn da mitfühlen? Als sie dann kam, am 6. September, war die emotionale Verweigerungshaltung dennoch sofort vergessen. Die neue Sabine, also Gabi, die es in nur fünf Jahren beim NDR bis in den Olymp, also Tagesthemen, gebracht hatte, ist hinreißend untussig, überraschend frech und wirkt auch sonst nicht so, wie sie heißt.

Mit einem Freispruch für den angeklagten Libanesen Safwan Eid endet am 30. Juni nach 60 Verhandlungstagen der Lübecker Brandprozeß. Der Brandanschlag auf das Flüchtlingsheim in der Lübecker Hafenstraße, bei dem im Januar 1996 zehn MigrantInnen den Tod fanden, bleibt unaufgeklärt. In Lübeck aber wird weiter gezündelt. In der Nacht zum 25. Mai legen drei Heranwachsende mit fremdenfeindlicher Gesinnung die Vicelin-Kirche in Schutt und Asche. Die Täter im Alter zwischen 15 und 19 Jahren werden festgenommen. Sie sagen aus, daß sie mit dem Anschlag gegen das Lübecker Kirchenasyl für eine algerische Familie protestieren wollten.

Umweltsenator Fritz Vahrenholt (SPD) verabschiedete sich nach der Wahlschlappe zwar freiwillig aus dem Senat, um sein Wirken für die Umwelt als Shell-Vorstand fortzusetzen. Dennoch brauchen Hamburgs Pressefotografen nach Abtritt des knöpfchendrückenden, bänderzerschneidenden und in Gummistiefeln daherstapfenden PR-Profis nicht um regelmäßige Beschäftigung zu fürchten. Hamburgs neuer Ober-Öko Alexander Porschke (GAL) zeigt sich gelehrig. Erster Pressetermin: Ökologische Weihnachtsbäume fällen, Kameras willkommen. Zweiter Termin: CarSharing-Autos fahren. Nur das mit dem Knöpfchendrücken muß er noch lernen.