Ein städtisches Selbstgespräch

■ Achtzig Zeilen Kuhlbrodt: Werbung und Graffiti sind zwei ästhetische Verarbeitungsformen von Wirklichkeit - manchmal auch mit dem merkwürdigen Charme des Ungeschickten

Seit 1994 kämpft der CDU-nahe Verein „Nofiti“ gegen Graffiti und für die Reinhaltung öffentlicher Orte. „Schmierereien“ stören das Stadtbild. Was sollen die Touristen denken? Wenn man am Vormittag so etwas im Talk-Radio hört, möchte man reflexartig gleich gegen die öffentlichen Werbebilder wettern: Für Geld vermieten die ungefragt unsere Augen, das ist doch unerhört!

Doch eigentlich stört mich die Werbung in der U-Bahn genauso wenig wie die Graffiti. Beides sind ästhetische Verarbeitungsformen von Wirklichkeit, wenn man es mal so hochgestochen sagen will, eine Art Selbstgespräch also, das die Stadt mit sich führt.

Manchmal hat das den Charme des Ungeschickten, wenn Juwelier Schulz aus der Wilmersdorfer Straße zum Beispiel anfängt, zu dichten: „Wir haben nichts dagegen, wenn Sie sich ein wenig zieren.“ Manchmal ist es ein bißchen peinlich – wie das Selbstlob der Berliner Zeitung –, manchmal auch eklig.

Die ekligste Werbung sah ich neulich in Leipzig: „Immer wenn ich meine Freundin anschaue, bekomme ich einen Orgasmus. Bin ich noch normal?“ hieß die lustige Frage eines ausgedachten Hörers, mit der der fröhlich junge Lokalsender „mephisto 97,6“ die Stadt plakatierte. Man weiß dann so gar nicht, was man da noch sagen soll. Also: Zurück nach Berlin.

In Berlin nerven die Hauswurfwerbesendungen. Als Wort erinnert mich „Hauswurfsendung“ irgendwie an Hundehaufen. Allerdings gibt es auch hier ein Einerseits und ein Andererseits: Natürlich ist es sehr ärgerlich, jeden Vormittag zweimal in den Flur zum Haustüröffner rennen zu müssen, während man sich gerade wichtige Gedanken macht, und dann sagt nur jemand schüchtern „Werbung, bitte“. Und später schmeißt man dann den ganzen Werbedreck wieder weg.

Auf der anderen Seite möchte man die, die aus Not Werbehandzettel verteilen müssen für wenig Geld, ja unterstützen. „Freiheit ist“ ja auch „kein Konsumprogramm, sondern will täglich neu verdient werden“, sagte Roman Herzog. Außerdem klingt ihr „Werbung, bitte“ so flehend, als wären sie heute schon zehnmal in Ausübung ihrer Arbeit übel beschimpft worden.

In der U-Bahn führen übrigens immer mehr Menschen Selbstgespräche. Auch der Anteil der Verrückten und der mal offensiv, mal defensiv Fertigen steigt ständig. Wahrscheinlich fahren die CDUler vom Verein „Nofiti“ eher selten U-Bahn. Wenn sie es tun würden, würden sie vermutlich eine Initiative gegen die immer elender aussehenden U-Bahnfahrer ins Leben rufen.