Arbeitslose: „Wir sind alle Härtefälle!“

Mit vielfältigen Aktionen in ganz Frankreich fordern Arbeitsloseninitiativen und Gewerkschaften mehr Geld. Damit wird wieder über die elf Prozent der Menschen diskutiert, die unter der Armutsgrenze leben  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Jahrelang waren sie bloß eine stetig wachsende Ziffer. Jetzt sind sie Personen, mit Gesichtern, Namen und konkreten Forderungen: Französische Arbeitslose haben gestern an der Bastille in Paris demonstriert, den Parteisitz der Sozialisten in Bordeaux besetzt, in der nordfranzösischen Stadt Arras die Eingangstüren des Büros für die Verwaltung von Arbeitslosenhilfe zerstört – und angekündigt, daß sie den Druck auf die Regierung im neuen Jahr verstärken werden.

Heute wollen die Arbeitslosen vor den Sitz des französischen Arbeitgeberverbandes CNPF ziehen und die Silvesternacht gemeinsam in den zehn landesweit besetzten Arbeitsämtern verbringen.

Unter anderem fordern die Arbeitslosengruppen „Agir ensemble contre le chômage“ (AC!) und die Arbeitslosenkomitees der Gewerkschaft CGT, deren Bewegung Mitte Dezember begonnen hat und seither stetig gewachsen ist, eine „Jahresendprämie“ von 3.000 Francs (rund 900 Mark) für alle Arbeitslosen – nach offiziellen Angaben sind das gegenwärtig 3,1 Millionen in Frankreich – sowie die Anhebung der Zahlungen an die Schwächsten von ihnen.

Mit einer Notfallhilfe für besondere Härtefälle, die die sozialistische Arbeitsministerin Martine Aubry am 24. Dezember in Aussicht gestellt hatte, wollen sie sich nicht zufriedengeben. „Wir sind alle Härtefälle“, skandierten aufgebrachte Arbeitslose in der nordfranzösischen Provinzstadt Arras, wo am Montag ein paar Scheiben der zuständigen Präfektur zu Bruch gingen.

Nach heftigen Diskussionen in den eigenen Reihen herrschte bei den gestrigen Aktionen der Arbeitslosen wieder Politik statt Gewalt gegen Sachen vor. Die Pariser Demonstranten verlangten, daß die für die Verwaltung der Arbeitslosengelder zuständige UNEDIC sie empfängt und daß sie an den sie betreffenden politischen Krisensitzungen beteiligt werden. Die vom Arbeitsministerium gestern veröffentlichte Novemberstatistik, wonach die Arbeitslosigkeit von 12,5 auf 12,4 Prozent – um 9.000 Personen – zurückgegangen ist, beeindruckte die Bewegung nicht.

Die Protestbewegung hatte Mitte Dezember in den besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen an der belgischen Grenze sowie im Großraum Marseille begonnen. Während sich die stärkste Gewerkschaft des Landes, die kommunistennahe CGT, von vornherein daran beteiligte, hat sich die eher sozialdemokratische CFDT, die gegenwärtig auch den UNEDIC-Vorsitz innehat, bislang in völliges Schweigen gehüllt.

In den Monaten vor Beginn der aufsehenerregenden Aktionen war das Thema der sozialen Ausgrenzung selbst von der rot-rosa- grünen Regierung, die damit unter anderem ihren Wahlkampf bestritten hatte, weitgehend ignoriert worden. Statt sich um die rund elf Prozent der Bevölkerung zu kümmern, die laut dem staatlichen französischen Statistikinstitut INSEE unterhalb der Armutsgrenze von 3.200 Francs (rund 970 Mark) leben, konzentrierte sich die Regierung bislang auf Jugendarbeitslose und Arbeitszeitverkürzung.

Das Stichwort „Armut“, das die wütenden Arbeitslosen jetzt wieder in die Öffentlichkeit gebracht haben, war aus den offiziellen politischen Diskursen weitgehend verschwunden.