Deutsche verschwinden zwischen den Jahren

■ Alleinstehende, Alte und Junge beschenken sich selbst und gehen zwischen Weihnachten und Neujahr auf Reisen. Teil V der taz-Serie über Kosumwünsche und -wirklichkeiten

Frankfurt/Main (taz) – Weihnachten, hatten Martina und Klaus beschlossen, wird nicht gespart. Der Computerfreak mit der kleinen Kommunikationsagentur hat sich das Jahr über schlecht und recht über Wasser gehalten, die Aufträge tropften spärlich, mußten „gebaggert“ werden. Seine Frau klagt seit der Wende ebenfalls über ihr gesunkenes Einkommen. Die Kursleiterin bekommt nicht mehr so viele Umschüler vom Arbeitsamt zugewiesen wie noch vor einigen Jahren.

Aber trotzdem: Gespart wird anderswo, schon wegen Tochter Johanna. Klaus ist in einen kleineren Büroraum umgezogen, das Zweitauto ist verkauft, und Urlaub gibt es nur noch einmal im Jahr. Die Pakete unter der Tanne hingegen türmten sich. Die CDs mit den Schlagern der „Backstreet Boys“ waren, so der Papa, „ein Muß“. Das Computer-Zeichenbrett hatte Johanna sich gewünscht. Außerdem liebt sie Hunde, ist aber allergisch gegen Tierhaare. Von der Oma bekam sie deshalb einen großen Stoffhund.

Und die eher praktischen Geschenke, die sich die Eltern gegenseitig genehmigt hatten, wurden, „damit es schön aussieht und jeder was zum Auspacken hat“, bunt eingehüllt. Johanna hat ihr Taschengeld geschont. Den Eltern hat sie wieder Bilder gemalt. Martina, Klaus und Johanna – die typische, deutsche Familie?

Das war einmal. Traditionelle Weihnachten mit frommen Liedern, Apfel, Nuß und Mandelkern feiern – statistisch zwischen Mitte 20 und Ende 30 Jahre alt – vor allem Eltern von Kindern bis zum Teenageralter. Familienkrach statt schöner Bescherung gibt es dann in jeder achten Familie. Wer irgend kann, läßt die Feierei bleiben und verreist. 130.000 Menschen flogen am letzten Adventssonntag ab in den Süden, 500.000 drängten sich in den Bahnen.

Oder man praktiziert „Cocooning“, das Verkriechen in den warmen, häuslichen Bereich. Die Einsamen kauften sich schon im grauen November Weihnachtskugeln und Lichterketten fürs Haus. Der Hauptverband des Deutschen Einzelhandels (HDE) bemerkte, die Kunden beschenkten sich selbst mit „bis in den Kitsch hineinragenden figürlichen Darstellungen“.

Große Anschaffungen stehen nur noch selten als Überraschung unter dem Weihnachtsbaum. Die Deutschen jagten Schnäppchen, schenkten sich vor allem Kleinigkeiten: Schals, Brieftaschen, Parfüm, kleine Schmuckstücke, Videospiele. Und das zeitweilig verpönte SOS war auch wieder angesagt: Socken, Oberhemden, Schlips. Da lagen auch Klaus und Martina im Trend. Sie haben sich warme Winterjacken gekauft.

Das hat auch in sparsamen Zeiten weniger mit dem Einkommen zu tun als damit, daß sich die Bräuche geändert haben. Das Fest ist zum Patchwork geworden. Die Feiertage, schlossen die Einzelhändler schon Mitte Dezember aus dem Konsum, machen sich aus wie „ein Sammelsurium von Einzelschicksalen“.

Wie wahr! Der Kollege hat sich nach einem „wirklich ätzenden“ 1. Feiertag mit der Familie ins Ausland verdrückt. Was heuer nicht ganz einfach ist. Die besseren Hotels jenseits der Landesgrenze im Elsaß waren ausgebucht von deutschen Weihnachtsflüchtlingen.

Das Schenken ist, wenn überhaupt noch üblich, oft nicht nur lästig, sondern kaum kaschierte Bosheit. Mutter bekam als Strafe für ihre Erwartungshaltung an einen Tag Harmonie in der zerstrittenen Verwandtschaft einen superteuren Freßkorb mit Sachen, die sie nicht mag. Die Nichten und Neffen kriegten, schon um deren ökologisch korrekte Eltern zu quälen, jeder 20 Gutscheine für eine Hamburger-Braterei. Die Selbstmörder, weiß ein Krankenpfleger, der Weihnachten durch Notdienst in der Klinik entflieht, „die kommen erst zu Silvester“. Heide Platen