Vom Gespenst der Kriminalität

Bald wird der Innensenator die Kriminalstatistik für das Vorjahr bekanntgeben. Aber es ist ein Trugschluß, zu glauben, daß die Zahlen die aktuelle Kriminalitätsentwicklung widerspiegeln. Tatsächlich werden damit bei den Bürgern nur Ängste geschürt  ■ Von Otto Diederichs

So lange ist es noch nicht her, dennoch wirkt es wie eine Überlieferung aus altvorderer Zeit: Einst tippten die Polizisten in den Bundesländern die bekanntgewordenen Straftaten säuberlich in Computerlisten und nannten sie Polizeiliche Kriminalstatistik. Diese übergaben sie zum Jahresende ihrem Innenminister, der eine Pressekonferenz einberief, auf der er anhand des Zahlenwerkes seine Erfolge erläuterte und begründete, warum er dennoch mehr Geld, mehr BeamtInnen und weitere Gesetzesänderungen benötige, um noch besser zu werden.

Alle kannten das Ritual, und so führte es meist zu einer etwas größeren Meldung auf den Innenseiten der Tagespresse, bevor alle wieder zur Tagesordnung übergingen.

Das Leben ist unterdessen schneller geworden und die Politik konzeptionsloser. Mit der bloßen Präsentation polizeilicher Arbeitsbelastung im Frühjahr des Folgejahres ist es nicht mehr getan, und so argumentiert man unterdessen mit Halbjahresstatistiken, Hochrechnungen oder ausgewählten Kriminalitätsbereichen.

Auch die Konkurrenz hat zugenommen. Die polizeilichen Interessenverbände haben das einstige Präsentationsmonopol der Minister längst unterlaufen.

Beim Wettlauf um die Meinungsführerschaft in der Kriminalitätsdiskussion hat Innensenator Jörg Schönbohm mit der Vorlage seiner „Bilanz“ Mitte Dezember 1997 denn auch nur den zweiten Platz belegt. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) war mit ihrer Erhebung einen knappen Monat schneller. Ihrer Alarmmeldung zufolge ist es im Bezirk Mitte am gefährlichsten, am sichersten können sich dagegen die Tempelhofer fühlen. Der Kurfürstendamm gilt ihr mit 20.443 Delikten je 100.000 Einwohner als Berlins kriminellste Meile; das Einbruchsrisiko ist in Zehlendorf am höchsten, und die Gefahr, in eine Schlägerei zu geraten, im Wedding am ehesten gegeben.

Der Innensenator seinerseits sieht eine gesteigerte Aufklärungsquote der Polizei von 47 Prozent (1996: 44,4 Prozent) im allgemeinen und eine rückläufige Tendenz bei Morddelikten im besonderen voraus. Zwei Tage vor dem Jahresende revidierte er seine Prognose.

Mit der Elle der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) vermessen, behalten dennoch alle Seiten stets recht – hierin liegt der politisch-instrumentelle Wert der PKS. Eine Kriminalstatistik ist eben keine statische, festgefügte Einheit, sondern eher einem Segel vergleichbar, in das der Wind aus sehr unterschiedlichen Richtungen blasen kann. Daß sie ein aktuelles Bild über die Entwicklung von Kriminalität in der Gesellschaft wiedergebe, ist ein Trugschluß.

Neben verschiedensten äußeren Faktoren, welche die PKS beeinflussen können ist insbesondere der Umstand zu beachten, daß sie mit den Strafverfolgungsstatistiken der Staatsanwaltschaft nicht kompatibel ist.

Konkret heißt das, was aus den von der Polizei bearbeiteten (und damit in der PKS erscheinenden) Fällen letztlich wird, ist aus dem veröffentlichten Zahlenwerk nicht ersichtlich. Weder läßt sich ablesen, wie viele Fälle an die Justiz abgegeben wurden, noch, wie viele anschließend angeklagt wurden, und schon gar nicht, ob es am Ende zu einer Verurteilung kam. Was die Kriminalstatistik tatsächlich aufzeigt, ist lediglich der Arbeitsanfall der Polizei im jeweiligen Jahr. Verschwiegen wird zudem, daß Wissenschaftler den Wert der Statistik immer wieder in Zweifel ziehen und das Jonglieren mit den Zahlen der PKS auch polizeiintern stark umstritten ist. Seit über zwei Jahrzehnten zieht sich der Streit bereits durch die polizeiliche Fachpresse.

Verkürzt man nun auch noch die Erhebungszeiträume, wird auch die Aussagekraft der feilgebotenen Zahlen zunehmend fragwürdiger. Das Fatale dabei ist, daß in der Bevölkerung so Kriminalitätsängste weiter geschürt werden, die der Realität längst nicht mehr entsprechen.

Auch wenn verschiedene Indizien für eine tatsächliche Steigerung von Kriminalität sprechen, ist der Trend weitaus weniger dramatisch, als dies der Öffentlichkeit suggeriert wird.

Kein Zufall ist auch, daß in immer kürzeren Zeiträumen wechselnde Bedrohungsszenarien ausgemacht werden, wobei gilt, daß immer dann, wenn die Glaubwürdigkeit und Faszination einer Bedrohung nachläßt, flugs eine neue präsentiert wird. So galt der Politik in den siebziger Jahre der Linksterrorismus als die größte Herausforderung der inneren Sicherheit in der Bundesrepublik.

Für jegliche Verschärfung des Strafrechts und die Erweiterung polizeilicher Befugnisse wurde eine Bedrohung durch die Rote Armee Fraktion herangezogen. Diese wurde in den achtziger Jahren schleichend durch die Gefahr der organisierten Kriminalität ersetzt; sie wiederum verliert ihren Stellenwert zunehmend an die Jugendkriminalität.

Unabhängig von der unmittelbaren Wirkung, die solche Kriminalitätsdarstellung und -berichterstattung auf den einzelnen Menschen hat, gibt es dabei einen in sich geschlossenen Kreislauf der Furchtvermarktung: Was heute für Medien berichtenswerte Nachrichten sind, wird von Politik und Polizei nur zu gern aufgegriffen und in Handlungsbedarf umformuliert.

Mit der Ankündigung eines solchen Bedarfs läutet sich die nächste Runde von selbst ein. Der Hamburger Kriminologe Sebastian Scheerer hat dieses Phänomen bereits 1978 als „politisch- publizistischen Verstärkerkreislauf“ identifiziert. Mangelnde Orientierung wird dabei durch markige Entschlossenheit ersetzt. Straftatbestände und Sanktionen werden nicht mehr sorgfältig herausgearbeitet, statt dessen wird „gehobelt“.

Das Problem der organisierten Darbietung von Kriminalitätsgefahren und Sicherheitsbedrohungen liegt unter anderem darin, daß durch die langjährige Dramatisierung nicht einmal ein Wissen verfügbar scheint, auf welche gesellschaftlichen Probleme veränderte Kriminalitätsverhältnisse hinweisen.

Dies sollte bedacht werden, wenn der Innensenator in absehbarer Zeit erneut vor die Presse treten wird, um heftig mit den Zahlenketten der PKS zu rasseln – auf daß niemand das Gespenst der Kriminalität übersehe.