Fasten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang

Viele der 210.000 Berliner Muslime unterwerfen sich seit Silvester den Regeln des Ramadan. Das heißt von morgens bis abends kein Essen, kein Trinken, keine Zigaretten, keinen Streit und auch keinen Sex. Der Fastenmonat endet am 28. Januar  ■ Von Süleyman Artiișik

Wenn die Sonne aufgeht, muß der letzte Bissen heruntergeschluckt sein, dann heißt es bis zum Einbruch der Dunkelheit darben. Auch Trinken, Rauchen, Sex sowie Zank und Streit sind für viele der 210.000 in der Stadt lebenden Muslime tabu, die seit dem 31. Dezember bis zum 28. Januar den Fastenmonat Ramadan einhalten.

Jedes Jahr beginnt das Ereignis zehn Tage früher als im Vorjahr. „Das ist gut so“, meint Hasan Fevzioglu, ein 57jähriger Arbeiter aus Wedding, denn im Sommer tagsüber nichts zu trinken zerre an der Substanz. Während der dreißigtägigen Fastenzeit üben die Gläubigen im neunten islamischen Monat – Ramadan, dem Monat in dem die Offenbarung an den arabischen Propheten Mohammed begann – tagsüber Enthaltsamkeit. Die islamische Zeitrechnung beginnt mit der Hidschra, der Emigration Mohammeds von Mekka nach Medina im Jahre 622 nach Christus. Es handelt sich um einen Mondkalender mit 29 bzw. 30 Tagen im Monat. Das islamische Jahr hat 354 beziehungsweise 355 Tage und ist somit elf Tage kürzer als das Jahr nach der gregorianischen Zeitrechnung.

Bis 6.05 Uhr darf gegessen und getrunken werden, dann wird bis 16.06 Uhr gefastet. Nach dem Essen wird gebetet. Viele Muslime, Männer und Frauen, besuchen dazu eine der vielen Berliner Moscheen. Insgesamt gibt es in der Stadt 56 Gebetsräume, zumeist in umgebauten Fabriketagen.

Der religiöse Brauch dient der Buße für Sünden, um sich nach langer Krankheit innerlich zu reinigen oder um Kräfte für anstehende schwere Aufgaben zu sammeln, aber auch als Solidaritätsakt mit Menschen, die auch außerhalb der Fastenzeit nicht genug zu essen haben, sagt der 25jährige Student der Elektrotechnik, Farhad Akbari. Das Fasten sei auch ein Mittel, um Träume und Visionen herbeizuführen und einen Kontakt mit dem Göttlichen herzustellen, fügt sein Kommilitone Mahmoud Ahmadi hinzu.

Die muslimischen Gläubigen besorgen sich ihren Fastenkalender beim Kulturverein oder in der Moschee, eine große Anzahl von türkischen Gläubigen liest täglich in der türkischen Tageszeitung Hürriyet nach, ab wann nicht mehr gegessen, getrunken, geliebt werden darf. Oder sie zappen sich durch die vom Fernsehen übertragenen türkischen Gottesdienste. Weil sich der Fastenkalender nach der Sonne richtet, verschieben sich die Gebets- und Essensstunden täglich um ein paar Minuten.

Dönerbuden und Gaststätten hingegen schließen nicht zu Ramadan, ebensowenig die Läden in den Moscheen. Das Leben in Kreuzberg scheint ganz im Gegenteil noch mehr als sonst zu pulsieren. Lebensmittelhändler verdoppeln während des Ramadan ihren Umsatz. Fleischwaren, Fladenbrot und süße Teigwaren werden noch mehr als sonst gekauft. „Ich werde schon nach der Fastenzeit ein paar Kilo mehr auf die Waage bringen“, scherzt der Rentner Ali Büyükgöl und befühlt seinen Bauchspeck. Wie viele der in Berlin lebenden 210.000 Muslime tatsächlich streng den Fastenmonat einhalten, vermag er nicht zu schätzen: etwa siebzig Prozent der ersten Einwandergeneration, dreißig Prozent der zweiten und dritten Generation.

Die Fastenzeit bedeutet für die muslimischen Familien nicht nur seit dem 31. Dezember Entsagung vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang. Er bringt ihnen auch Geselligkeit, wenn die Stunden ohne Essen, Trinken, Rauchen und andere leibliche Genüsse vorüber sind. „Ich freue mich, daß abends immer Besuch da ist oder ich irgendwo bei Bekannten eingeladen werde“, sagt Fatma Çenk, eine Hausfrau aus Neukölln. Gäste zu bewirten, kurzum zu teilen, heißt Vergebung der Sünden. Der Heilige Koran sagt: „Wer mit Gutem kommt, dem soll das Zehnfache werden...“

Am ersten „Iftar“ (dem täglichen Fastenbrechen) des diesjährigen Ramadan ist die Familie von Fatma zu Besuch: die Schwiegereltern und deren 19jährige Tochter Yildiz. Dann sind da noch Fatma Çenks zwei Schwestern, mit ihren Ehegatten samt den Kindern, drei an der Zahl. Endlich ist es 16.06 Uhr, Zeit, mit dem Iftar zu beginnen. Auf dem Tisch stehen Suppe, Salat, Fleischgerichte, Reis, Fruchtsäfte, Wasser sowie Datteln. „Den Iftar sollte man immer mit einer Dattel eröffnen, da diese Frucht aus dem Paradies stammt“, erklärt der Schwiegervater von Fatma, Ismail Çenk, und legt sich genüßlich eine in den Mund.

Gemüsesuppe, der erste Gang. Die Frauen löffeln zügig, immer die Teller der anderen im Blick. Denn sind die leer, holen sie schnell Nachschub aus der Küche – „die betreten türkische Männer nämlich leider selten“, sagt die 28jährige alte Fatma, lacht und zupft ihr Kopftuch zurecht. Die Stimmung der türkischen Tafelrunde ist gelassen und heiter. „Festliche Harmonie soll herrschen“ sagt der 33jährige alte Hausherr, Yilmaz Çenk. Er verweist auf die „Bakara Süresi“ 183 bis 187, jene Suren, in denen erklärt wird, warum der Gläubige den Ramadan einhalten soll. Und er spricht vom Glauben, der sich dadurch festige, von der erhofften Vergebung der Sünden, die Allah und seine Propheten versprochen haben, von der Reinigung von Körper und Geist. „Die ersten ein, zwei Tage sind immer schlimm“, sagt seine Frau zwischen Lammfleisch mit Bratensoße und Reis sowie Bohnen, den Gängen zwei und drei. „Aber man gewöhnt sich daran.“ Da der diesjährige Ramadan genau zu Silvester begann, ist sie erst gar nicht zu Bett gegangen, denn nach dem Iftar stand der Familie Çenk noch eine große Silvesterfeier bevor. Seit über zwanzig Stunden ist sie auf den Beinen, denn auch vor Sonnenaufgang darf gegessen und getrunken werden. „Seit 6.05 Uhr ist aber Schluß damit, bis jetzt.“ Kranke, Reisende, Frauen, die ihre Regel haben, aber auch Kinder sind von der Fastenpflicht ausgenommen, „ein Muß ist das erst nach der Pubertät“.

Am 27. Ramadantag wird die Nacht hindurch gebetet und gefeiert, daß an diesem Tag im Jahr 610 Mohammed die erste Koranschrift erhielt. Damit wird das Fastenbrechen eingeleitet, das im dreitägigen „Șeker Bayrami“ – Zuckerfest am 29. Januar – endet. „Dann ziehen sich alle schön an, bekommen kleine Geschenke, die jüngeren Leute besuchen die älteren und freuen sich, auch tagsüber wieder essen zu dürfen“, sagt Fatma. Alle sitzen sie nun ein wenig schlaff und träge auf Sofas und Stühlen, denn ein Fastentag endet meist mit Völlegefühl. Zeit für den Zimttee, heiß, süß und im Glas serviert. Zeit aber auch für den baldigen Aufbruch zum Gebet in die Moschee.