Sterben lassen, bevor man stirbt?

■ Die Bundesärztekammer arbeitet mit umstrittenen Thesen an neuer Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung. Ein erster Entwurf liegt vor

1998 will der Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) eine neue „Richtlinie zur ärztlichen Sterbebegleitung und den Grenzen zumutbarer Behandlung“ beschließen. Der vorliegende Entwurf rechtfertigt, was kein deutsches Gesetz vorsieht: den todbringenden Abbruch medizinischer Behandlung bei Menschen, die gar nicht im Sterben liegen.

„Angesichts der herausragenden gesellschaftlichen Bedeutung des Themas“ hat sich die BÄK zu einem Schritt entschlossen, der in ihrer Geschichte einmalig ist. Vorstandsmitglied Eggert Beleites forderte zur „öffentlichen Diskussion“ über den Entwurf auf, und in zwei Wochen gibt es dazu Gelegenheit: Am 15. Januar 1998 veranstaltet die BÄK in Königswinter bei Bonn ein öffentliches Symposium zur ärztlichen Sterbebegleitung. Auf dem Podium dabei ist neben Medizinern, Juristen und Politikern auch ein Vertreter der Angehörigen von Wachkomapatienten.

Daß er eingeladen wurde, ist kein Zufall. Denn für Menschen, die im Koma liegen, ist der Richtlinienentwurf besonders brisant. Sie gelten zwar auch im Ärztekammerpapier als „Lebende“. Trotzdem soll bei ihnen ein „Behandlungsabruch lebenserhaltender Maßnahmen zulässig“ sein, „wenn dies dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht“. Den „Behandlungsabbruch“ sollten Ärzte verantworten; im Krankenhausalltag dürften sie das todbringede Tun oder Unterlassen aber meist von Schwestern oder Pflegern verlangen.

Würde die neue BÄK-Direktive unverändert beschlossen, wären auch Neugeborene mit schweren Fehlbildungen betroffen. Sie müßten nicht mehr wie selbstverständlich medizintechnisch behandelt werden. Vielmehr sollen die Eltern entscheiden, ob ihr Nachwuchs am Leben gehalten werden soll oder nicht. Auch bei „unheilbar“ eingestuften, jedoch nicht sterbenden Patienten erlaubt die Richtlinie todbringende Unterlassungen. Folgsame Ärzte können „lebensverlängernde Maßnahmen“ künftig abbrechen oder gar nicht erst aufnehmen. Voraussetzung für den von Medizinern gebahnten Weg ins Jenseits auch hier: die erklärte oder mutmaßliche Einwilligung des Betroffenen.

Ungeachtet dessen sichert die BÄK-Spitze unheilbar Kranken bis zu ihrem Lebensende die sogenannte „Basishilfe“ zu. Laut Richtlinientext sind dies: Zuwendung, Körperpflege, Schmerzlinderung, Freihalten der Atemwege, Flüssigkeitszufuhr, „natürliche Ernährung“. Dagegen fehlt der Anspruch auf „künstliche Ernährung“, zu der medizinische Standardwerke wie das klinische Wörterbuch „Pschyrembel“ auch die Ernährung via Magensonde rechnen. Daß wegen der auffälligen Lücke im BÄK-Text das Verhungernlassen von Patienten künftig gerechtfertigt sein könne, hat Professor Beleites wiederholt mit einer eigenwilligen Argumentation ausgeschlossen wissen wollen. Unter „natürlicher Ernährung“ verstehe die BÄK-Spitze nämlich „die Zufuhr von Nahrung in den Magen“ und damit sehr wohl auch die Sondenkost. Obwohl diese Darstellung von der Fachliteratur abweicht, habe man keine Notwendigkeit gesehen, die eigene Position klarzustellen. Im Zweifel werden sich Juristen beim Interpretieren des Richtlinientextes wohl nicht bei Professor Beleites erkundigen, sondern der Definition medizinischer Standardwerke folgen.

Das Sterbebegleitungspapier ist bereits auf reichlich Kritik innerhalb und außerhalb der Ärzteschaft gestoßen. Auch Bonner ParlamentarierInnen meldeten sich zu Wort. Die beiden Grünen, Monika Knoche und Marina Steindor, erklärten, es gehöre nicht zum ärztlichen Behandlungsauftrag, lebenserhaltende Maßnahmen bei Menschen abzubrechen, die sich überhaupt nicht im Sterbeprozeß befinden. Und der Christdemokrat Hubert Hüppe mahnte: „Fragen, bei denen es um Leben und Tod geht, dürfen wir nicht mehr irgendwelchen Kommissionen überlassen.“ Klaus-Peter Görlitzer