Schriften zu Zeitschriften
: Poesie als Erfolgsmeldung

■ Fünf Jahre „Das Gedicht“: Über den Siegeszug einer Lyrikzeitschrift

Die leidvolle Erfahrung des jungen Brecht, daß „jeder halbwegs normale Deutsche ein (mittelmäßiges) Gedicht schreiben kann“, hat vor ein paar Jahren Hans Magnus Enzensberger zu mildem Spott veranlaßt. Die Poesie, so mokierte er sich, sei heute das einzige Massenmedium, bei dem die Zahl der Produzenten die der Konsumenten weit übertreffe. Trotz ihres Status als artistisches Massenhobby sei die Lyrik aber eine unverkäufliche Gattung geblieben und laboriere weiter an der „Unmöglichkeit, Gedichte in Geld zu verwandeln“.

Kaum hatte Enzensberger seine Thesen (1989) niedergeschrieben, trat der bis dato wenig auffällige Dichter Anton G. Leitner aus dem bayerischen Weßling auf den Plan und bewies das Gegenteil. In den achtziger Jahren hatte Leitner zweimal vergeblich versucht, beim Darmstädter „Literarischen März“, dem heißbegehrten Wettbewerb für Nachwuchsdichter, das Entrebillet in den Lyrik-Ruhm zu lösen. Was ihm als Dichter nicht gelang, bewerkstelligte er dann als Herausgeber: 1993 schritt er gemeinsam mit seinem Lyrikerkollegen Ludwig Steinherr zur Tat – und gründete die Zeitschrift mit dem ebenso schlichten wie wirkungsvollen Titel Das Gedicht, ein jährlich erscheinendes Lyrikkompendium mit kommentierter Bibliographie und Exklusivitätsanspruch. Diese editorische Entscheidung erwies sich als pekuniär vielversprechende Geschäftsidee. In Windeseile erreichte Das Gedicht die dritte Auflage, und ahnungslose Kritiker fabelten vom „neuen verlegerischen Zentrum“ für anspruchsvolle Gegenwartslyrik. Zwar existieren mit der Berliner Literaturzeitschrift Park und den in Basel erscheinenden Zwischen den Zeilen längst zwei ungleich avanciertere Lyrikperiodika, aber der Gedicht-Herausgeber verstand es, die Aufmerksamkeit der Feuilletons auf sich zu lenken.

Für die werbewirksame Idee, eine Million Brottüten mit umweltverträglichen, respektive leicht konsumierbaren Gedichten zu bedrucken, kassierte er umgehend einen Kulturpreis der Stiftung Lesen. Auch um Eigenlob war Leitner nicht verlegen; noch das dritte Heft, die umfangreiche „Drei-Länder- Ausgabe“ („Austria“, „Confoederatio Helvetica“, „Deutschland“), füllte er seitenweise mit euphorischen Kritiken und schmeichlerischen Leserbriefen, um noch die letzten Zweifel an der eigenen Vortrefflichkeit auszuräumen. Dabei hatte gerade die inhaltliche Konturlosigkeit der ersten beiden Hefte, die innige Nachbarschaft von solidem Dichterhandwerk und betäubendem Flachsinn heftige Zweifel an diesem Lyrik-Unternehmen geweckt.

Mit dem Erscheinen des dritten Heftes trat dem zu diesem Zeitpunkt alleinverantwortlichen (und mittlerweile hauptberuflichen) Herausgeber Leitner der Münchner Lyriker und Essayist Ulrich Johannes Beil als Chefredakteur zur Seite – und fortan blieben schlimmere Mißgriffe bei der Auswahl der Gedichte aus. Dem Mitwirken Beils ist es auch zu verdanken, daß sich im Theorieteil des Gedichts kaum noch schaumschlägerische Ergebenheitsadressen und peinliche Selbstmißverständnisse finden und sich statt dessen die sachkundigen Beiträge vermehren, die fast so etwas wie eine „Lyrikdebatte“ animiert hätten. Aber eben nur fast.

„Läßt sich über Lyrik streiten?“ fragte Beil (im Gedicht Nr. 4) in einem mit argumentativen Appetizern versehenen „offenen Brief“ einige prominente Lyriker – und erntete nur wenig mehr als Achselzucken. Durs Grünbein, von den legendären Attacken durch den österreichischen Dichter Franz Josef Czernin noch ziemlich zermürbt, tat kund, es werde „viel zuviel über Gedichte geredet“; Jürgen Becker verwies skeptisch auf die Entstehungsdynamik des Gedichts „außerhalb der notorischen Verständigungszwänge“ – und das war es auch schon.

In der aktuellen Nummer 5 des Gedichts versucht Ulrich Beil erneut mit einigen klugen Reflexionen zum „europäischen Gedicht“ die beteiligten Lyriker aus der Reserve zu locken. ,Gibt es das ,europäische Gedicht‘?“ Auf diese erkennbar rhetorische Frage antworten die Autoren (Joachim Sartorius, Andrea Zonzotto, Mario Luzi, Kurt Drawert, Dirk von Petersdorf, Kurt Marti u.a.) mit der gebotenen Skepsis. Eine unsinnige kontinentale Begrenzung der „europäischen Poesie“ wird denn auch von allen Autoren als „unzulänglich“ oder gar „euro- chauvinstisch“ (K. Marti) zurückgewiesen: „Für meinen Teil, denke ich, es gibt nur ,lokale‘ Gedichte, die, wenn sie durch das Gedächtnis der Welt (der Poesie) gegangen sind, dieses Lokale transzendieren und, wenn es sehr gute Gedichte sind, zur Weltpoesie gehören“, so Joachim Sartorius.

Schon in der Fragestellung erkennt Dirk von Petersdorff, ein munterer Antipode des branchenüblichen Kulturpessimismus, „den Geist des Kleinmuts“, der sich hinter den alten Positionsbestimmungen zwischen klassischer Moderne und verstaubter Avantgarde verbarrikadiert hat. Das „mentale Schwächeln, die Bleichgesichtigkeit“ (Petersdorf) der poetischen Reflexion wird auch Das Gedicht erst überwinden können, wenn sich zu Ulrich Beils essayistischen Soli herausragende Gedichte gesellen. Lyrische Sprachereignisse wie das wunderbare „Resumée“ von Adolf Endler, in der gleichsam eine Liste vermißter Gedicht- wörter angelegt wird, muß man noch immer mit der Lupe suchen: „Und wie konnte ich fünfzig Jahre das Wörtchen ,Wadenwickel‘ verfehlen? / Es gibt keine ausreichend liebe Erklärung für das und für dies und für das.“ Michael Braun

„Das Gedicht. Zeitschrift für Lyrik, Essay und Kritik“, Nr. 5. Anton G. Leitner Verlag, Postfach 1203, 88231 Weßling. 125 Seiten, 18 DM