■ Was Marx und Freud für die 68er waren, könnten Niklas Luhmann und Vilém Flusser für den neuen Studentenprotest werden
: Zurück von Nirgendwo

Wo immer in den vergangenen Wochen Studenten streikten, besorgten sie sich Videos aus 68er Zeiten, und das nicht nur, um sich gegen die Zumutungen eines Vorbilds abzugrenzen. Irgend etwas ist da noch klärungsbedürftig. Denn 68 war ja nicht nur die letzte Blüte eines Zeitalters, das mit idealistischem Protest und dogmatischen Nachgeburten zu Ende ging. Es begann auch etwas Neues: das Zeitalter der Autodidakten und der Selbstdenker.

68 war ein Fest der großen Systeme. Hegel, Marx und Freud standen für den überschwenglichen Glauben, man könne die Welt im Kopf haben. So materialistisch die Semantik war, so idealistisch war die Grammatik, und so unerbittlich schließlich war die Praxis derer, die meinten, das einmal als richtig Erkannte exekutieren zu müssen. Aber den dogmatischen Orden vorausgegangen war die Urszene der wunderbaren antiautoritären Rebellion. Die noch autoritätsgläubige Nachkriegsgeneration hatte mit ihren Provokationen den Kaiser auf der Bühne der Autoritäten entkleidet. „Er ist nackt!“ schrien die rebellischen Kinder mit schriller Stimme und erhoben sich im Parkett. Alle Autoritäten sind nackt. Das war die Sternstunde der antiautoritären Generation. Viele machten diese Erfahrung zu ihrem Lebenskapital. Zinsen werden immer noch ausgezahlt. Das ist die Haben- Seite. Andererseits: Der klare Blick auf die Enthüllungsszene war erschreckend und fuhr den Rebellen in die Glieder, als sie erkannten, daß nicht nur der Kaiser auf der Bühne ohne Kleider ist, sondern daß auch sie nackt sind. Viele stürmten nun den Fundus der Geschichte und liehen sich heroische Kostüme aus. Sie hängten sich lange Lenin-Mäntel um und klebten sich Marx-Bärte an. Ohne den Schutz eines Buches wagten sich die mutigen Revoluzzer nicht mehr ins Freie. Für einige Jahre wurde kein Satz ohne Zitat gesprochen – das alles aus Angst, ebenso nackt zu sein wie der Kaiser auf der Bühne.

Wollten die 68er mit aller Radikalität an ihre Wurzeln und sehnten sich die Zwischengenerationen der 70er und 80er Jahre danach, Wurzeln zu schlagen, so haben die Heutigen ein gewagteres Experiment begonnen: ohne Wurzeln zu leben. Auch wenn sie nicht aus Migrantenfamilien stammen, sind sie tatsächlich heimatlos und ihre Chancen suchen sie nicht mehr im Standpunkt der einen richtigen Ideologie oder Organisation. „Wenn Fasern zerrissen werden, dann erlebt der Migrant dieses als einen schmerzhaften Eingriff in sein Innerstes“, schrieb der Philosoph Vilém Flusser, der als jüdisches Kind aus Prag vertrieben wurde. „Erst als ich unter Schmerzen erkannte, daß mich die nun amputierten Fasern angebunden hatten, wurde ich von jenem seltsamen Schwindel der Befreiung und des Freiseins ergriffen, der sich darin zeigt, daß sich die Frage ,frei wovon?‘ in die Frage ,frei wozu?‘ verkehrt.“

Seit 1968 waren die Generationen „On the road to nowhere“, wie die Talking Heads sangen, Utopia, das Land Nirgendwo, ihr Ziel. Aber wenn immer möglich, ließen sie sich zu bürgerlicher Existenz nieder, sei es in freier Praxis oder auf einer Stelle, auf die der Marsch durch die Institutionen sie führte. So blieb von der Utopie nur das Gejammer. Aus Apo wurde Apokalypse. „Ich suchte mein Heil in der Utopie und fand ein bißchen Trost in der Apokalypse“, schrieb der rumänisch-französische Schriftsteller Emile Cioran.

Der Pragmatismus, den mancher 68er am neuen Protest der Studenten belächelt, könnte die Rückkehr vom apokalyptisch entstellten Land Nirgendwo erleichtern. Allerdings müßte sich der Pragmatismus mit dem Sinn für Ideen paaren. Das ist ja wohl eine noch nicht kurierte deutsche Krankheit, daß sich das Land in pragmatische Pragmatiker und utopische Utopisten teilt. Pragmatische Utopiker und utopische Pragmatiker sind noch selten. Für die Rückkehr aus Nirgendwo werden bedeutsame Orte gebraucht. Universitäten und Schulen zu solchen Orten zu kultivieren, darauf kommt es nun an.

Die von vielen verbliebenen 68ern eingenommene Stellung des Wissenden, der auf die Welt wie ein Gott von außen blickt, ist so erschöpft wie die Dynamik des Autoritätskonflikts, aus der sich der Protest einst speiste. In der ödipalen Inszenierung hieß es, Platz da, nun kommen wir. Diese schlichte Opposition ist obsolet. Die Gesellschaft ist weiter. An die Stelle der Entweder-Oder-Inszenierungen sind inzwischen Verhandlungskulturen mit wechselnden, zuweilen sogar mit ungewöhnlichen Bündnissen getreten. So mangelt es dem neuen Studentenprotest an Feinden. Die krampfhafte Suche nach ihnen wird aber nichts bringen, außer operettenhaften Nachinszenierungen alter Scharmützel. Ohne die Hilfe von Feinden Eigenes zu kreieren, das ist nun die Herausforderung, 30 Jahre nach 1968 und bald ein Jahrzehnt nach 1989.

Aufklärung, was da entstehen könnte, kann man beim großen Meister der Abklärung, beim Soziologen Niklas Luhmann finden. Sein Werk ist ein großes Lernprotokoll dieses so leicht zu proklamierenden und so schwer zu beschreitenden Übergangs von der Freiheit von etwas, der Protestethik, zur Freiheit zu etwas, der Selbstorganisation, der Kunst von Autopoiesis, wie Luhmann sagt. „Mit der Physik kommt man auf den Mars“, schrieb ein Kritiker, „mit Niklas Luhmann bleibt man auf der Erde.“

Er zerstört den Erlösungsglauben, wenn wir uns erst von der Last der Bevormundungen, vom Druck der Ausbeutung und von der Tyrannei der Besserwisser befreiten, und dann die Folgen der Unterdrückung abstreiften oder wegtherapierten, komme eine darunterliegende, ursprüngliche Harmonie des Menschen zum Vorschein. Diese Tradition, die Luhmann alteuropäisches Denken nennt, glaubte an die Kraft des einen Zentrums. Dieses Wahrheits- und Steuerungszentrum aber ist in rasantem Zerfall, ob es nun Gott heißt, König oder „die da oben“, ob Zentralkomitee, Professor, Regierung oder bloß Hierarchie. Das Zentrum beziehungsweise der Glaube daran, wird in der modernen Gesellschaft verdampft. Zur Geltung kommt die Pluralität der sich selbst organisierenden Systeme. Wollten die 68er noch das Zentrum besetzen, glaubten sie noch an die eine richtige Theorie, so sind die Heutigen tatsächlich zum Lernen und zur Neugierde verurteilt. Keiner ist nur noch einer. Jeder ist mehrere. Das schüchtert sie selbst ein, solange sie isoliert sind. Kommt aber das Zusammenspiel der Nichtidentischen erst einmal in Gang, haben intelligentere Choreographien Chancen. Reinhard Kahl