Mit Äxten und Säbeln

Über 400 Tote in einer Nacht: Die neuen Massaker im Westen Algeriens bedeuten eine Ausweitung des Bürgerkrieges  ■ Von Reiner Wandler

Pünktlich zum Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan erlebt Algerien wieder einige der blutigsten Massaker seit Ausbruch des Konflikts zwischen dem Militärregime und islamistischen Gruppen, der seit 1992 über 120.000 Menschenleben gefordert hat. In der Region um die westalgerische Stadt Relizane überfielen die radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) in der Nacht zum Mittwoch zeitgleich die drei Dörfer Ouled Sahrine, El Abdel-Kherarba und Ould Mohamed Bentayeb. Nach Angaben der französischsprachigen algerischen Tageszeitungen El Watan und Liberté – die wie alle algerischen Medien nicht frei über Sicherheitsfragen berichten dürfen – kamen dabei über 400 Menschen ums Leben, so viele wie im Vorjahr während des gesamten Ramadan. Wenn dies stimmt, übertrifft der Blutzoll dieser Nacht selbst den der Massaker von Benthala und Rais im September, bei denen jeweils über 250 Menschen ihr Leben verloren hatten.

Die Terrorkommandos wüteten den Berichten zufolge die ganze Nacht mit Äxten und Säbeln. Armee und Rettungsdienste seien erst beim Morgengrauen in den entlegenen Ortschaften im unwegsamen Ouarsines-Gebirge, 250 Kilometer westlich der Hauptstadt, eingetroffen. Ihre Schilderungen bieten ein Bild des Grauens: Babys und Kleinkinder mit eingeschlagenen Köpfen, enthauptete Frauen mit aufgeschlitzten Bäuchen, überall verstreute Leichenteile. Die Zahl der Todesopfer dürfte in den nächsten Tage noch steigen, denn vielen der unzähligen Verletzten räumen die Ärzte im Krankenhaus von Sidi Rhoui keinerlei Überlebenschance ein.

Entgegen sonstiger Gewohnheiten kam die Regierung nicht umhin, in einem eigenen Kommuniqué diesen blutigen Ramadanauftakt zu bestätigen, wenngleich sie auch nur von 78 Toten sprach. Die Massaker von Relizane sind der traurige Höhepunkt einer Reihe von Überfällen und Attentaten im bis vor wenigen Wochen ruhigen Westalgerien. Alles deutet darauf hin, daß die GIA nach starken Militäroperationen rund um die Hauptstadt Algier Teile ihrer Kommandos in das Ouarsines-Gebirge verlagert haben. Die algerische Presse spricht bereits von einem zweiten Todesdreieck vor den Toren von Oran, der zweitgrößten Stadt des Landes. Allein im Dezember listen unabhängige Quellen dort über 600 Tote auf. Im ganzen Land zählen sie 800.

Während die Regierung in Algier nach dem Abschluß der Bildung gewählter politischer Institutionen auf allen Ebenen nicht müde wird, von „Normalisierung“ zu reden, gesteht der Militärkommandeur in Oran, Kamal Abderrahmane, seine Hilflosigkeit ein. Er könne nicht alle entlegenen Dörfer schützen lassen, erklärte er und forderte die Bevölkerung auf, Bürgerwehren zu gründen oder die Gegend zu verlassen.

Die Menschen in Ouled Sahrine, El Abdel-Kherarba und Ould Mohamed Bentayeb überhörten diese Warnung. In den einstigen Hochburgen der Islamischen Heilsfront (FIS), auf deren Sieg bei Algeriens ersten freien Wahlen Ende 1991 die Machtergreifung der Armee und damit der Bürgerkrieg begann, fühlte sich die Bevölkerung vor Überfällen islamistischer Gruppen sicher. Seit Oktober schauten sie sogar wieder mit Hoffnung in die Zukunft. Damals hatte die Armee des Islamischen Heils (AIS), bewaffneter Arm der FIS, einen Waffenstillstand verkündet, um die GIA – die als „Verfechter der infamen, kriminellen Gewalt, die abscheuliche Massaker an Unschuldigen begehen“ bezeichnet wurde – zu isolieren. Der Druck der Armee auf die Region ließ merklich nach. Jetzt rächen sich offenbar die GIA.