Boulevard der Zitatarchitektur

■ Lichtblick im Plattenwald: 50 Jahre war sie nur mit Schreckensmetaphern belegt, doch es gibt „Eine Zukunft für die Karl-Marx-Allee“, wie der Bildband von Paulhans Peters beweist

Was will der Mensch in der Stadt? Behaust sein, bewegt werden, gereizt und geschützt sein, die Balance von Aufregung und Muße in voller Tiefenschärfe als den geschichtlichen Moment empfinden, der Erhabenheit verspricht, ohne Feinheit zu verjagen. Kann „sozialistischer Protzbau“, „stalinistische Zuckerbäcker-Architektur“, kann ein Demonstrationsobjekt planwirtschaftlicher Eitelkeit einen solchen Zweck erfüllen? Diese Frage erhitzt seit fast fünfzig Jahren die Gemüter, wenn es um die Stalinallee, später und jetzt Karl-Marx-Allee, in Berlin geht.

Im eifersüchtigen Systemstreit war das prominenteste Renommier-Projekt der jungen DDR, die Bebauung der Tangente zwischen Zentrum und Osten, ein goldener Zankapfel. Moderate Töne fanden in der Sinfonie der Schreckens-Metaphern und des ZK-Kauderwelsches kaum Gehör. Zu Unrecht, wie ein jetzt beim Hamburger Dölling und Galitz Verlag erschienener Band, Eine Zukunft für die Karl-Marx-Allee, beweist.

Im wilden Kreiseln der Beurteilungen, geprägt von den streitenden Schulen der Nachkriegsarchitektur, war eine emotionslose Sicht auf das Objekt und seine Chancen kaum möglich. Dessen Qualitäten, wie sie sich fern jeder Propaganda darstellen, treten erst jetzt, mit der aufwendigen Renovierung, in das Bewußtsein der Öffentlichkeit. Denn inmitten des endlosen Plattenwaldes, wie ihn die Architekten der Nachkriegsmoderne gefordert haben und wie ihn Gott sei Dank nur die Ostdeutschen großflächig umsetzten, erscheint dieser Boulevard aus Zitatarchitektur wie ein Fossil, das sich wiederbeleben läßt.

Ähnlich wie die Gründerzeit-Architektur, von der an der Stalinallee in Großformen abgekupfert wurde, hat auch dieses zwei Kilometer lange Stück Stadt die zeitgenössisch Modernen als „revisionistisch“erbost. Daß gerade damit ein Stück lebenswerte Stadt bewahrt werden kann, ging im ideologischen Streit unter.

Paulhans Peters Buch zeigt anhand der Renovierung, wie unter der Patina, der chemischen wie der historischen, ein Ensemble zutage tritt, das durchaus die Merkmale eines metropolitanen Boulevards entwickelt. Die dichte zusammenhängende Bebauung, die Ansiedelung von Gewerbe im Parterre, die breiten Fußwege, die aufgelockerten Fassaden und die Funktion als Wohngebäude erlauben es diesem Archipel, ein vitales Stück Stadt zu werden. Denn wo statt HO-Läden mit beschränkter Zugangsberechtigung und Schauläden ohne Angebot fluktuierender Konsum Menschen zum Flanieren anregt, da ergibt die Mischung von Wohnbevölkerung und Laufpublikum in der Regel belebende Synergie-Effekte, die man mit aller Liebe in den Plattenbausiedlungen nicht erhalten wird.

Trotz der stilistischen Sammelwut der damaligen Architekten, die von Barock über Klassizismus bis zur Moderne reichte und einem durchaus die Anmutung von Kitsch geben kann, vermittelt die Straße bei aller Imperialität ein Gespür für das Urbane. Gerade der Erhalt von Details, sozialistische Kunst am Bau ebenso wie großbürgerliche Holzapplikationen in den Gebäuden, gewährt die Hoffnung, daß dieses Stück Stadt nicht so tot bleiben muß, wie es noch zu DDR-Zeiten war. Die schwierige Eingliederung der sozialistischen Baukultur in die Gesamtheit einer Stadt kann hier sicherlich viel eher gelingen als in Hohenschönhausen. Und die Rücksichtnahme von Investoren, die sich auf die Geschichte einer Architektur einlassen, anstatt sie auf die flüchtige Mode ihrer Zeit auszurichten, wäre auch sonst in der Republik wünschenswert. Gerade auch dann, wenn die zeitgenössischen Geschmackswächter und Effizienzplaner irgendwo minderwertige Architektur entdeckt haben. Zweimal hinschauen lohnt oft.

Kees Wartburg

Paulhans Peters: „Eine Zukunft für die Karl-Marx-Allee“; Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1997, 160 S.; 68 Mark