Nehmen wir mal an, es klappt nichts mehr

■ Schöne Träume und ein dicker Kopf: Kevin Cantys Erzählungen „Mondschein und Aspirin“

Romane dürfen in Ausnahmefällen kuschelig sein. Wie sanft gepolsterte Sitzecken, in denen man für ein paar Stunden gemütlich herumlungern kann. Kurzgeschichten dagegen sind nichts zum Ausruhen. In ihnen werden kleine, stachelige Welten wie kratzige Wolldecken ausgebreitet.

Der Amerikaner Kevin Canty ist so ein Wolldecken-Schreiber. Jede der zehn Short Stories, die in seinem Erzählband „Mondschein und Aspirin“ versammelt sind, kratzt und juckt schon bei der ersten Berührung. Und doch macht es Canty seinen Lesern leicht. Seine ersten Sätze sind so verführerisch und verlockend, daß man sich rasch hineinziehen läßt in die borstige Textur.

„Als wir meine Mutter zum drittenmal einweisen ließen, waren mein Vater und ich schon nach Jacksonville in Florida gezogen.“ So beginnt „König der Elefanten“, und damit weiß man eigentlich alles und gar nichts. Also weiterlesen, hinein in die gute Stube. Und die ist in guter amerikanischer Kurzprosa-Tradition voller Dreck: dirty realism.

Der Teenager Raymond hört von seiner Mutter nur noch dann, wenn irgendein Notarztwagen sie nach einem neuerlichen Koma-Besäufnis in ein Hospital gefahren hat. Falls er seinen Vater in irgendeiner Vorstadtbar auftreiben kann, machen sie sich nach solch einer Benachrichtigung gemeinsam in ihrem alten Plymouth auf den Weg zur Mutter. Ein hoffnungsloser Versuch, das Projekt „Kleinfamilie“ für kurze Momente aufleben zu lassen.

Eine andere Geschichte beginnt so: „Nehmen wir mal an, bei dir klappt nichts mehr.“ Das hätte auch der Anfang von Raymonds Geschichte sein können. Oder der seines Vaters oder seiner Mutter. Und eigentlich könnte Canty jede seiner Stories mit diesem Satz beginnen, denn er schreibt über nichts anderes als über die Verlierer in der Alltagslotterie. I'm a loser, baby: Typen wie Raymond, der den Absprung aus seiner Säuferfamilie nicht schafft. Wie Kenny, der als Bademeister jobbt und morgens um halb zehn schon zu bekifft ist, um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, geschweige denn mit einer zwanzig Jahre älteren Frau zu flirten. Oder wie Marian, deren Vorort-Ehe zur Vorhölle wird: Sie fühlt sich von ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn terrorisiert, verfolgt, gehaßt – und verstrickt sich immer tiefer in ihre Paranoia.

Solche Menschen träumen manchmal bei Mondschein und Fusel von einem anderen Leben. Einem Leben außerhalb der unaufgeräumten Mietwohnungen, auf einer Insel vor Florida vielleicht oder zumindest mit einem anderen Ehemann. Doch am nächsten Tag bleibt ihnen dann nur das Zischen, mit dem sich eine Aspirin in einem Wasserglas auflöst, und ein stechender Kopfschmerz: verkatert von zu vielen Träumen und vom Gin.

Der 44jährige Kevin Canty hat bestimmt viele Filme gesehen: „Rumble Fish“ von Coppola zum Beispiel. Und er hat mit Sicherheit den Short-Story-Großmeister Raymond Carver und seine genialen Miniaturen eingehend studiert. Mit Erfolg: Der Autor, Dozent für „creative writing“ in Montana, balanciert seine Geschichten ganz genau aus. Er hält den lakonischen Ton seiner Eingangssätze durch, läßt dem Wechsel zwischen innerem Monolog und Gesprächsfetzen seine Brüchigkeit und verzichtet auf breit hingepinselte psychologische Insights. Wie in „Das Opfer“, dem Bericht von einem kurzen, blutigen Ausflug heraus aus der tristen Welt der Shopping Malls und Drive-Ins: „Der Wind wehte eine leere Papiertüte, eine Einkaufstüte, von einem verlassenen Parkplatz auf die Straße, und Bobby versucht ihr auszuweichen, aber es gelingt ihm nicht – die Tüte gerät mit einem lauten, überraschenden Geräusch unter die Räder und bleibt hinter ihnen zurück. So ist es, denkt Tina. Genau so ist es.“

Genau so ist es: Es gibt zuletzt nur einige Bilder, die verfärbten Polaroids gleichen. Dazu Teenagerangst, kaputte Stimmungen und fetzenweise Melancholie. Irgendwo zwischen Sehnsucht und Ernüchterung, zwischen Mondschein und Aspirin, enden die Stories, und Cantys Figuren verlieren sich. Spurlos verschwinden sie aus ihren kleinen und viel zu engen Welten, und nur vor den Augen des Lesers ziehen sie ein paar Schlieren. Wie die abgenutzten Scheibenwischer auf einer regennassen Windschutzscheibe. Kolja Mensing

Kevin Canty: „Mondschein und Aspirin. Stories“. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1997, 188 S., 34 DM