Chinesenviertel im künstlich neuen Glanz

Nach Jahren des Verfalls wird das „barrio chino“ in Kubas Hauptstadt wiederaufgebaut – für den Tourismus  ■ Aus Havanna Knut Henkel

Der Duft fernöstlicher Gewürze steigt in die Nase, es zischt und dampft aus Pfannen und Töpfen: gebackenes Gemüse, Frühlingsrollen, Chop Suey oder Nasi Goreng werden angepriesen und finden reißenden Absatz. Auf den Preislisten prangen neben den spanischen Worten liebevoll gemalte chinesische Schriftzeichen, die zwar kaum jemand lesen kann, die aber sehr wohl dorthin gehören, denn schließlich ist man im Chinesenviertel von Havanna. Garküche reiht sich an Garküche, davor haben fliegende Händler ihre Verkaufswägelchen aufgebaut, umlagert von hungrigen Kubanern, die ihre Mittagspause hier verbringen. Dazwischen lugen immer wieder die Eingänge der zahlreichen Restaurants hervor, die sich in dieser kleinen Straße, kaum 300 Meter lang, angesiedelt haben. Kellner empfangen die hungrigen Gäste schon vor der Tür, reichen die Speisekarte, die nicht nur für kubanische Verhältnisse reichlich bestückt ist. Über 100 Gerichte bietet das „Tien Ta“, nicht viel weniger der „Templo del Cielo“ oder das „Flamboyant“. Doch nicht allein wegen der kulinarischen Genüsse kommen viele Kubaner ins barrio chino, ins chinesische Viertel. Auch der Bauernmarkt, der seinen Platz in einem der Hinterhöfe gefunden hat, erfreut sich großer Beliebtheit. Hier gibt es nicht nur Yucca, Boniato oder Schweinefleisch in sehr guter Qualität und zu relativ niedrigen Preisen. Auch Ginseng, Heilkräuter oder Gewürze werden feilgeboten.

Tritt man aus dem Gewühl der Marktes auf die nächste Straße, weist eine Leuchtreklame den Weg in eine der ältesten Zeitungsredaktionen des Landes – hier wird in mühevoller Kleinarbeit die einzige chinesischsprachige Zeitung Kubas hergestellt: die Kwong Wah Po. Was einstmals eine Tageszeitung mit beachtlicher Auflage war, ist heute nur noch ein vierseitiges Blättchen, das alle zwei Wochen in einer typographischen Ausgabe erscheint. In den zwanziger Jahren für und von der chinesischen Gemeinde gegründet, trug sich das Blatt über Jahrzehnte selbst und war in beinahe jedem der über 4.000 chinesischen Haushalte in Havanna anzutreffen, erinnert sich Alfonso Y. Chao Chiu, Präsident der chinesischen Gemeinde, dem „Casino Chung Wah“. „Heute unterstützt das Casino die Kwong Wah Po, die im Gegensatz zu früher nur noch eine Seite in meiner Muttersprache enthält“, erzählt Chao Chiu ein wenig wehmütig. „Unserer Zeitung geht es wie allen anderen Presseerzeugnissen in Kuba. Aufgrund des chronischen Papiermangels gibt es nur noch stark abgespeckte Ausgaben. Dazu kommen die technischen Probleme. Unsere Druckmaschine stammt aus den zwanziger Jahren, jeder Buchstabe wird von Hand gesetzt, an modernes Equipment ist nicht zu denken.“

Allerdings finden sich auch nicht mehr viele Käufer. Das barrio chino, in dem früher zwischen 10.000 und 30.000 Chinesen lebten, ist verwaist. „Maximal 300 gebürtige Chinesen leben noch im Viertel. Landesweit sind es vielleicht 3.000, aber die sind im Durchschnitt 79 Jahre alt – wir sterben also aus. Damit geht die 150jährige Geschichte der chinesischen Gemeinde in Kuba zu Ende. Unsere Nachkommen sind in der kubanischen Gesellschaft aufgegangen, und eine Immigration nach Kuba gibt es schon lange nicht mehr“, konstatiert der 69jährige traurig.

Die ersten von insgesamt 150.000 Chinesen setzten 1847 ihren Fuß auf die Zuckerrohrinsel: 206 Bauern waren es, die für die Zuckerrohrernte angeworben wurden. Acht Jahre sollten sie auf den Plantagen für vier Peso im Monat schwitzen. Wer die Tortur überstand, mußte sich eingestehen, daß mit den wenigen Pesos, die am Ende übrigblieben, der Weg nach Hause verbaut war. Also siedelten sie sich um Havannas Abwasserkanal, die Zanja, an – das Chinesenviertel entstand unter elenden Bedingungen.

Das sollte sich allerdings im Lauf der Jahre ändern. Havanna prosperierte, und auch das Chinesenviertel wuchs. Neuankömmlinge aus den Nachbarländern, aber auch aus den USA, investierten: Eine Importgesellschaft entstand, genauso wie Theater, Restaurants, Kinos, Apotheken, Opiumhöhlen oder das Casino. Nicht nur im Handel spielten die Chinesen eine Rolle, auch an den kubanischen Unabhängigkeitskriegen nahmen sie teil. Bekanntestes Beispiel ist der Teniente Tankredo, der es bis zum General im zweiten Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien brachte. Auch zur Revolution von 1959 trugen die Chinesen ihren Teil in Form eines eigenen Milizbataillons bei. Doch nach 1959 verblassen die Zeugnisse des chinesischen Einflusses, die im Casino Chung Wah lebendig gehalten werden, zusehends.

Dem Untergang des ehemals bekanntesten Chinesenviertels Lateinamerikas und dem Vergessen der chinesischen Kultur wird seit einigen Jahren allerdings nicht mehr tatenlos zugesehen. Einige engagierte Nachkommen chinesischer Einwanderer haben sich vor vier Jahren gefunden, um zu retten, was zu retten ist. „Wir wollen an unsere chinesische Tradition anknüpfen, das Viertel wiederbeleben und zu neuer Größe aufpäppeln“, sagt Elisa Leon, Mitglied der „Gruppe der Förderer des Chinesenviertels“. Die 45jährige Biologin, Kind chinesischer Eltern, arbeitet seit drei Jahren in der Organisation, die es sich zum Ziel gesetzt hat, das Chinesenviertel Havannas aus seinem über dreißigjährigen Dornröschenschlaf zu erwecken.

Seit knapp zwei Jahren ist die Gruppe, die von der Regierung unterstützt wird, für sämtliche Belange im barrio chino verantwortlich. Alle Steuereinnahmen, die in den Straßen mit so klangvollen Namen wie Dragones, Rayo oder Sol y Villages erwirtschaftet werden, fließen in die Kasse der selbsternannten Erneuerer, die sich noch vor drei Jahren bemühten, das kulturelle Angebot in den Straßen rund um die Zanja zu erweitern. Das gehört zwar auch heute noch zu den Arbeiten, denen sich Elisa Leon widmet, aber längst steht die Kommerzialisierung im Vordergrund: „Da wir uns zu 100 Prozent selbst finanzieren, müssen wir natürlich auch Sorge dafür tragen, daß Geld in die Kassen kommt. Wir unterstützen Familienbetriebe, finanzieren die Eröffnung von Restaurants, deren Einnahme wiederum für neue Projekte zur Verfügung stehen, oder beraten Leute aus dem Viertel, die sich selbständig machen wollen. Restaurants, Cafés, kleine Geschäfte sind auf diesem Weg entstanden und das Angebot soll weiter ausgebaut werden“, erklärt sie.

Die Handschrift der Gruppe ist denn auch bereits deutlich zu erkennen, in den noch vor wenigen Jahren durch Apathie und Verfall gekennzeichneten Häuserschluchten rund um die Zanja. Die alten Herren, die auf den Bordsteinen sitzen und ins Leere starren, sind einem geschäftigen Treiben gewichen. Alte Geschäftsschilder erstrahlen in neuem Glanz. Was 1968 während der zweiten kubanischen Verstaatlichungswelle enteignet wurde, scheint 30 Jahre später wieder aufzuerstehen – Rolläden werden hochgezogen, Türen öffnen sich, hinter denen kleine Geschäfte zum Vorschein kommen wie die Wäscherei an der Ecke Manrique, die nur noch zum Teil direkt vom Staat betrieben werden.

Nutzungsrechte werden gegen Gewinnbeteiligung abgegeben, neue Betriebe entstehen, die von chinesischen Familien geführt, aber von der Gruppe der Förderer verwaltet werden, genauso wie private Handwerks- und Dienstleistungsunternehmen, wie der Rikscha-Service von Antonio. Wo traditionelle Holz- und Porzellanarbeiten neben Gewürzen, eingelegten Früchten, Reiswein oder allerlei Tiegeln mit alten Heilmitteln feilgeboten werden, da gibt es auch Kundschaft, die nach Hause transportiert werden will.

Grundlage für den bescheidenen Boom,“ erläutert Elisa Leon, „ist die Legalisierung der ,Arbeit auf eigene Rechnung', der gesetzlichen Grundlage für Selbständigkeit in Kuba. Erstmals seit 1968 war es wieder möglich, in engen Grenzen Handel zu treiben, was von der chinesischstämmigen Bevölkerung schnell genutzt wurde. Das Viertel begann, ein wenig aufzublühen. Dieser Trend setzt sich über die Eröffnung des freien Bauernmarktes im Oktober 1994 bis heute fort.“

Symbolisiert wird das „Erwachen“ des Chinesenviertels durch ein überdimensioniertes Eingangstor, das einer chinesischen Seifenoper entstammen könnte. Aufgestellt wurde es zum 150. Jahrestag der chinesischen Einwanderung nach Kuba, der Anfang Juni vergangenen Jahres festlich begangen wurde. Eine chinesische Delegation gab sich die Ehre, die Ankunft der „Oquendo“ am 3. Juni 1847 mit 206 Erntearbeitern an Bord im Hafen von Havanna nachzustellen und während der folgenden einwöchigen Feierlichkeiten wurden all die versteckten chinesischen Einflüsse in der kubanischen Kultur gewürdigt: von der chinesischen Trompete, die auf keinem kubanischen Karneval fehlen darf, bis zum Reis und den zahlreichen Gemüsesorten, die aus der kubanischen Küche kaum mehr wegzudenken sind. Besondere Aufmerksamkeit wurde der traditionellen chinesischen Medizin zuteil. Die Akupunktur und die Verwendung chinesischer Heilkräuter gelten in Kuba angesichts der chronischen Engpässe bei der Medikamentenversorgung als Alternative.

Für die Veranstalter von der Gruppe der Förderer waren die Festlichkeiten ein voller Erfolg. Vielfältige Kontakte zur internationalen chinesischen Gemeinde seien zustande gekommen, die sich über kurz oder lang in Investitionen niederschlagen könnten, und auch die Touristen hätten das Viertel nun für sich entdeckt. Somit sei künftig mit steigenden Deviseneinnahmen zu rechnen, die zur Sanierung der Straßenzüge verwandt werden könnten.

Mittlerweile gibt es das erste chinesische Restaurant, das mit dem Kapital von in der Dominikanischen Republik ansässigen Chinesen eröffnet wurde, doch der Spielraum für derartige Projekte ist begrenzt. „Anders als in der Altstadt von Havanna, wo Eusebio Leal, der Stadthistoriker Havannas, alle Freiheiten hat, um die Restaurierung der Kolonialbauten voranzutreiben, haben wir nur begrenzte Möglichkeiten, Verträge mit Investoren auszuhandeln. Aus diesem Grunde sind wir auch nicht über die Restaurierung einiger Fassaden hinausgekommen, aber wir haben detaillierte Pläne erarbeitet, um die Attraktivität des Chinesenviertels für die Touristen zu steigern“, sagt Irmina Eng von der Gruppe der Förderer.

Für Chao Chiu, den Präsidenten, kommen die Aktivitäten im barrio chino recht spät. „Die Mitglieder unserer Gemeinde werden davon nichts mehr haben. Alles droht ein wenig künstlich zu werden, allein auf den Tourismus ausgerichtet – ein Chinesenviertel ohne Chinesen.“