„Westerwelles neue FDP kann es nicht geben“

■ Der Göttinger Politologe und FDP-Experte Franz Walter über die Identitätskrise der liberalen Partei

taz: Viele lachen nur noch über die FDP. Sollte man sie nicht bedauern?

Franz Walter: Es fällt mir zwar schwer, aber aus der historischen Perspektive betrachtet, kann man mit der Partei schon Mitleid haben. Die FDP hat in der Geschichte der westdeutschen Republik politisch häufig richtig gelegen und wichtige Weichenstellungen mit herbeigeführt, sei es die Westintegration, das Bekenntnis zur Marktwirtschaft oder die Ostpolitik. Dazu mußte sie zweimal die Koalitionen wechseln, und das hat ihr den Ruf einer Umfallerpartei eingebracht – aber für die Bundesrepublik war es wichtig.

Ist das Rumgeheule der FDP nur der übliche Katzenjammer der Partei zum Jahreswechsel?

Diesmal kam das finanzielle Desaster hinzu. Die Partei, die wie keine andere wirtschaftliche Kompetenz für sich beansprucht, verliert zehn Millionen Mark, weil ihr Schatzmeister einen Anfängerfehler macht – das reicht, die FDP in eine Identitätskrise zu stürzen.

FDP-Chef Wolfgang Gerhardt behauptet, es gebe keinen Grund, am Profil der Partei herumzumäkeln. Wie viele Gründe fallen Ihnen denn ein?

Viele.

Nennen Sie mal einen.

Westerwelle hat jahrelang gesagt, er wolle mit einem Argument nie mehr in den Wahlkampf gehen: Daß man die FDP wählen muß, damit Kohl wieder Kanzler wird. Die FDP hat 1998 aber nur eine einzige Chance, in den Bundestag zu kommen: Sie wird gewählt, damit Kohl wieder Kanzler wird.

Die Strategie von FDP-Generalsekretär Westerwelle ist also nicht aufgegangen: mit professioneller Vermarktung und radikalen Parolen der FDP ein neues liberales Milieu und damit eine neue Wählerschaft zu erschließen?

Nein. Bei Westerwelle ist zu merken, daß er in einer ungeheuren Weise von den Grünen fasziniert ist. Daß, was den Grünen in den 70er und 80er Jahren gelungen ist, wollte er kopieren: eine Milieupartei zu werden. Nicht, wie die Grünen, eine Milieupartei der 35- bis 45jährigen aus den dienstleistenden Mittelschichten, sondern eine Partei der jüngeren Generation aus den neuen, privatwirtschaftlichen Mittelschichten. Aber neue Milieus entstehen erst dann, wenn es einen Generationen- und einen kulturellen Konflikt einer Minderheit mit den herrschenden Strömungen der Gesellschaft gibt. Einen solchen Kulturkampf marktradikaler junger Leute mit dem Sozialstaat Bundesrepublik hat es aber in den letzten Jahren nicht gegeben, folglich kann es keine „neue FDP“ geben.

Eine Protestpartei der bürgerlichen Mitte macht sich auch schlecht, wenn man jahrzehntelang an der Macht war.

Das ist unglaubwürdig, völlig richtig. Eine Protestpartei muß immer auch populistisch sein. Eine Partei wie die FDP, die Teil des Machtkartells ist, die tagtäglich nachgeben und Kompromisse schließen muß, kann das nicht sein.

Erreicht Westerwelle die Leistungsträger aus den neuen Mittelschichten mit seiner platten Agitation überhaupt?

Sie fühlen sich intellektuell eher unterfordert. Westerwelles Argumentation ist ihnen zu primitiv, zu einseitig. Vor allem sind die deutschen Leistungsträger nicht so mobil, flexibel und dynamisch, wie Westerwelle sie gerne hätte.

Was bleibt der FDP für 1998 noch? Augen zu und durch?

In den neun Monaten bis zur Wahl kann die FDP keinen neuen Platz und kein neues Potential finden. Sie kann nur noch ihre Anhänger einsammeln und sich in das bürgerliche Lager einreihen. Ohne die Unterstützung der Union kommt die FDP nicht in den Bundestag. Interview: Jens König