Das ganz spezielle Gefühl im Zeh

■ „die horen“, die 188te: Bremerhavener Vierteljahres-Zeitschrift für Literatur zeigt 17 Prosa-Ansichten von Indien

„Es war der erste Tag im neuen Jahr. Es war schneidend kalt. Die Sonne hielt sich hinter dem Januarnebel und Dunst verborgen. Es war der typische Nebel um Neujahr.“Bremen ohne angemessene Regenkleidung? Nein! Delhi. Neujahr gibt es schließlich überall. Kälte auch, aber immer seltener. Und sogar die Formel „Heutzutage kann man doch niemandem mehr trauen!“hat als Lebensleitspruch nicht nur in Schwachhausen Gültigkeit. In Bhisham Sahnis Erzählung nämlich purzelt sie aus dem Mund einer widerlich-saturierten Hindu-Hausfrau. Schwester Hindu-Frau: Sie könnte auf einer Bürgerweidenparkbank schwadronieren. Ihren Seufzer „Man kann sich ja heutzutage nicht mehr auf die Dienerschaft verlassen“, können sich heute aber nur noch wenige Westeuropäer leisten. Im 19. Jahrhundert, ja da vielleicht eher; seltsame Zeitverschiebung. Vertrautheit – Fremdheit: Wie steht es bei diesem ungleichen Begriffspaar mit den Methaphern? Das Bild von einer menschlichen Stimme, die „knirscht wie eine sterbenskranke Straßenbahn“, gäbe bei Bremens sanft summendem öffentlichen Nahverkehr keinen rechten Sinn. Trotzdem rührt es an abgestandenen Erinnerungen aus der Kindheit. Nähe und Distanz: immer wieder ein Grunderlebnis im aktuellen Band der „horen“.

Die Perspektive von Innen, oder: Warum es absolut unverzichtbar ist, „die horen“, Heft 188, für 22 Mark käuflich zu erwerben:

Täglich, ach was, stündlich wird darüber geklagt, daß all die gräßlichen Nachrichten-Bilder von Unrecht und Grauen abgenutzt sind, uns nicht mehr „erreichen“. Warum nicht die Zeit, die man mit diesen ihrerseits wieder abgenutzten Klagen vergeudet, nutzen. Was dagegen tun: zum Beispiel lesen. Denn: TV-Reportagen zeigen die leidigen Tableaus von außen, Literatur zeigt sie von innen, rückt nahe, liefert den Maßstab 1:1.

Wassernot ist dann nicht nur die Anzahl der Bruttoregistertonnen ausgefallener Hirseernte, sondern auch das winzige Gefühl im dritten oder vierten Zeh, wenn er hängenbleibt, beim Ballspielen, an einem dieser Risse in ausgedörrter Lehmerde. Perspektivlosigkeit setzt sich dann nicht nur zusammen aus den immergleichen großen, ziellosen Augen. Sie addiert sich – viel inniger – aus den Gedankenwespen, nachts, im Hirn zum Beispiel eines fettsüchtigen Mannes, während seine zweijährige Tochter dauerplärrt; denn die Brust der gefrusteten, verbrauchten Mom gibt nichts mehr her. Harte Fakten werden also übersetzt in weichen Stoffwechel und fließende Hirnströme. Eine politische Angelegenheit, also.

Die Auswahl für den neuen horen-Band traf Martin Kämpchen. Und der ist, so erfährt man im Abspann, nicht nur Literaturwissenschaftler und Schriftsteller, sondern auch Entwicklungshelfer in Indien.

Wenn im Heft ausschließlich konventioneller, chronologisch-linearer Erzählton vorherrscht, und nicht der geringste Hauch von so etwas wie Avantgarde weht, dann liegt das vielleicht an Indien, vielleicht am programmatischen Beschränken auf Prosa, vielleicht aber auch an Kämpchen, dem Sozialengagierten. Literatur ist hier nicht formales Wunderwerk, sondern die Einladung zum Kennenlernen, Mitleiden, Anteilnahme, letztendlich mit dem Ziel den Arsch des Lesers – ein bißchen vielleicht? – hochzukriegen.

Diese indische Prosa ist altmodische Prosa. Allerdings mit einigem Recht. Schließlich gab es auch mal in Europa eine Zeit, wo die eine Klasse von der anderen herzlich wenig wußte. Da mußte ein Gerhard Hauptmann erklären, wie es bei den schlesischen Webern zugeht. Heute dagegen sind wir TV-Talkshow-Geprüften über alle wunderbaren Abartigkeiten informiert. Nur nicht über die sozialen! Nicht über das Leben in einem 11qm-Zimmer eines indischen Slums mit Frau und vier greinenden Kindern. „Die horen“erklären das alles ganz genau. Aufklärungsliteratur also im guten, alten Sinn. Ein Literaturstil, der bei uns nicht mehr geht, hat dort also durchaus Sinn. Wieder diese Zeitverschiebung.

Und erstaunlich viel ist es, was man trotz regelmäßiger Lektüre von Auslandsteilen diverser Zeitungen eben nicht wußte. (Letzt-endlich ist also dieser horen-Band der fast nicht mehr erwartete Beweis für die Überlegenheit von Literatur - manchmal.) Zum Beispiel die Rolle der Religion. Eigentlich ganz naheliegend: Wie auch das Christentum wird der Hinduismus derb mißbraucht zum Installieren politischer Macht - und zur Aufrechterhaltung einer ekeligen Doppelmoral. Und wieder: Ähnlich, und doch anders.

Sundara Ramaswamy erzählt von einem „Dorfvorsteher“, der mit ein bißchen Feuerzauber und einer erleuchtet zappelnden Tochter göttliche Erscheinungen vor-gaukelt, um seine Schäfchen – kurz vor der Wahl – bei der Stange zu halten. Wahlwerbung mit herbeigelogenen Göttern. Die Erzählung zeigt die Fragwürdigkeit demokratischer Konzepte in unalphabetisierten, unaufgeklärten Gebieten. Wenn unter Demokratie also nur das formale Einhalten gewisser Wahlgepflogenheiten verstanden wird, dann unterstützt das nur den herrschenden Lug und Trug. (Hier nicht anders als dort.) Chitra Fernandos Erzählung „Die Vollkommenheit des Gebens“zeigt, daß auch Großherzigkeit mit viel Eitelkeit und Rücksichtslosigkeit betrieben werden kann. Der Westen hat die Großherzigkeit aus diesem Grund abgeschafft; - vielleicht auch nicht unbedingt die beste Lösung.

Aber nicht alle Geschichten über den Hinduismus sind kritisch, manche sind einfach nur Geschichten. Zum Beispiel die von einem Mann, der auf den Spuren der Heiligen alle weltlichen Bindungen kappte. Logischerweise waren am Ende auch die religiösen Ziele fällig. So wurde aus dem vermeintlichen Sadhu ein illusionsloser Nihilist. Ein ganz normales Leben eben.

Das Buch zeigt auch, wie ein komplettes Menschenleben durch und durch geprägt werden kann durch irgendwelche mysteriösen Wertmaßstäbe: Weil es nicht die unseren sind, können wir sie in ihrer Seltsamkeit erkennen. Jeelani Bano zum Beispiel erzählt von einem Mädchen mit dunkler Hautfarbe. Da das aber offensichtlich als gravierender Schönheitsmakel definiert ist, wählt sie mutig eine Außenseiterposition und wird Schriftstellerin. Doch auch in Indien holt die Gesellschaft ihre Rebellen schnell wieder ein. Die Frau degeneriert zur ergebenen Ehefrau, weil sie ihrer Schwester nicht schaden will.

Immer wieder wird deutlich, wie groß der soziale Druck in einem Gesellschaftsgefüge ist, wo finanzielle Sicherheit von familiären Strukturen gewährleistet wird. Der Pflicht zur Dankbarkeit und zur Selbstaufopferung entkommt da keiner. Wie froh ist da der europäische Leser auf einmal über sein unsentimentales, bürokratisches, staatliches Lebenssicherungssystem. Über das Fremde bekommt man hier die eigene Welt in eine klarere Optik.

Formal dagegen ist die indische Prosa nicht gerade umwerfend. Aber wenn der horen-Leser mal nachfragt über das Drittweltengagement der Bundesrepublik und keine rechte Antwort erhält, wird er sich vielleicht ein indisches Sprichwort ausleihen: „Du bildest dir wohl ein, daß sich deine Zunge abnutzt, wenn du mir antwortest.“Hört sich nett an. Auch das ein Mehrwert. bk