Das Leben, ein Test

Was bleibt, wenn die Arbeit nicht mehr im Zentrum der Gesellschaft steht? Der Dokumentarist Harun Farocki analysiert in seinen Filmen postindustrielle Formen der Arbeit bis hin zu ihrem Verschwinden  ■ Von Stefan Reinecke

„Wenn die Fabriken von den Menschen geräumt sein werden, gibt es nur noch Sozialhilfe. Die einen gewähren, die anderen empfangen, und alle vier Jahre wird gewählt.“ (Hartmut Bitomsky)

Ende des 20. Jahrhunderts befinden sich die hochentwickelten westlichen Länder in einem unaufhaltsamen Wandel. An die Stelle der Industrie- tritt sukzessive die Dienstleistungsgesellschaft. Damit verliert auch der sichtbare mythische Ort der industriellen Produktion, die Fabrik, ihren zentralen Stellenwert. An diesem Ort wurde der menschliche Körper in den Produktionsprozeß eingefügt; hier geschah, zugespitzt im Taylorismus, die Domestizierung des Menschen. Zugleich war die Fabrik auch der Ort der Vergesellschaftung, an dem die neue proletarische Klasse erst zum Bewußtsein ihrer selbst kommen konnte, das im Streik seinen symbolischen und manifesten Ausdruck fand.

Der Umbruch zur postindustriellen Gesellschaft verändert auch die Bedingungen, unter denen die Bilder von Arbeit entstehen. Maschinelle Arbeit, die die industrielle Gesellschaft prägte, war für Dokumentaristen stets ein Anziehungspunkt. Der Grund dafür lag nicht allein darin, daß die Fabrik zentraler Topos der meisten sozialrevolutionären Bewegungen dieses Jahrhunderts war, sondern auch in einer ästhetischen Struktur. Bildermacher fanden an diesem Ort ein sprechendes Arrangement vor: In der industriellen Produktion trat der Mensch in Kontakt mit Maschinen. Wenn auch nicht immer en détail, so doch im großen und ganzen konnte man zeigen, wie die Produktion vonstatten geht. Gleich ob als ästhetisches Faszinosum wie im Stahlwerk oder als terroristischer Zusammenhang wie am Fließband, stets fand der Dokumentarist brauchbare Bilder für die Mensch- Maschinen-Verbindungen. Diese Bilder funktionierten auch als Metaphern. Der Schweiß der Arbeiter, der fließende Stahl, die maschinell eingebrachte Ernte waren, vor allem im realsozialistischen Dokumentarfilm, Zeichen, die etwas beweisen sollten.

Der Prozeß der Verwandlung in eine postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft ist auch ein Prozeß der Entstofflichung – und des Verschwindens eines vertrauten Codes von Bildern der Arbeit. Kann man die Arbeit in einer Versicherung oder in einem Videoladen zeigen, metaphorisieren?

Welche Kultur rückt an die Stelle der Arbeit?

Die Schwierigkeit, entmaterialisierte Arbeit darzustellen, ist Symptom einer umfassenden Krise. Die Frage nach dem künftigen Stellenwert der Arbeit rührt zentral an das gesellschaftliche Ordnungssystem. Was bleibt, wenn mit der Arbeit die wesentliche Bindekraft der westlichen Gesellschaften verschwindet? Welches Verhaltensmuster, welche Kultur rückt an ihren Platz? Einige Dokumentarfilme von Harun Farocki beschreiben diese Veränderungen. Sie sind visuelle Analysen eines radikalen Umbruchs.

In „Leben – BRD“ (1989/90) sehen wir beispielsweise 32 Erprobungen von Alltagsszenen: in Krankenhäusern und Schulen, Behörden und Versicherungen. Stets wird Wirklichkeit simuliert. Sterben und Gebären, Schreien, in dem man sich selbst näherkommen soll. Alles kann offenbar gelernt werden, wenn man über die richtige Gebrauchsanweisung verfügt. Das Leben, ein Test. „Leben – BRD“ zeigt, so Farocki, „die Wirklichkeit in ihrer Lehrgangsbeschwörung. Ich habe Situationen aufgesucht, die normalerweise nicht genommen werden, um Schule, Polizei, das Sterben im Krankenhaus oder eine Geburt zu repräsentieren.“

Die Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht, drängt zu neuen, spielerischen Formen. Farockis Blick auf diese gespielte Realität gleicht dem staunenden Blick eines fremdländischen Ethnographen, der seinem Volksstamm unsere einheimischen Lebensrituale zeigen möchte. Die Komik entsteht dabei aus dem falschen Ton: dem Ernst, mit dem die Beteiligten bei einer Sache sind, die doch nur die Simulation dieser Sache ist. Diese Komik verweist auf einen tieferliegenden Widerspruch. Die Ideologie (vor allem) der psychologischen Lehrgänge ist es, daß der Mensch hier frei, unbedrängt von den Zwängen der Wirklichkeit, sein Selbst entfalten kann. Farockis Montage, die das Material formal organisiert, ohne es zu werten, offenbart, wie stereotyp und normiert sich dies vollzieht.

Die Popularität der Simulationsveranstaltungen deutet dabei ein Defizit an: In einer Gesellschaft, in der immer mehr wesentliche Reproduktionsprozesse unsichtbar werden, wächst der Wunsch nach sinnlicher Erfahrung. Weil verschwindet, was früher selbstverständlich war, wird es im – nur scheinbar freien – Spiel inszeniert. Farocki sagt dazu: „Einerseits werden die Dinge immer unanschaulicher, andererseits versuchen die Institutionen immer mehr, wie soll man sagen, Scheinveranschaulichungen. Das passiert auch in der Computertechnik. Die Dinge sind unsichtbar, werden aber ständig zu dieser Scheinanschaulichkeit gebracht. Daher auch diese Flut von Tabellen und Schaubildern. Vilém Flusser hat dies die „verkitschte“ Darstellung der Dinge genannt. Und die Organisationen in „Leben – BRD“ sind vielleicht etwas Ähnliches. Kaltes Klinikum, es gibt nichts zu sehen und zu zeigen. Und dann beginnt einer dieser Kurse: „Wie wird man Mensch?“

Normiertes Leben, uniforme Individualität

So ist „Leben – BRD“ nicht nur die Analyse einer verwalteten Lebenswelt. Der Film erscheint auch wie eine Paraphrase von Kracauers Interpretation der Tiller-Girls, deren gezirkelte Bewegungen er als ästhetischen Widerschein kapitalistischer Produktion deutete. „Amüsement“, schrieben Adorno und Horkheimer weiterführend in „Dialektik der Aufklärung“, „ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Die Mechanisierung hat solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachahmung des Arbeitsvorgangs selbst.“ In gewisser Weise schließt „Leben – BRD“ dort an, auch wenn hier nicht die Arbeit den Rhythmus des Amüsements diktiert. Hier bestimmt die Doktrin, daß alles erlernbar, meß- und formalisierbar ist, das Innenleben – und kein intimer Bereich, weder Sex noch Tod oder Geburt, kann diesem Diktat entkommen. „Leben – BRD“ (dessen Einheitssound scheinbar intimer, individueller Uniformität Farocki durch Bilder von Materialprüfungsverfahren unterschnitten hat) zeigt so die groteske Nachtseite der Ideologie der individualisierten Gesellschaft. Das Individuelle ist gewissermaßen in die (simulierte) Funktionale gerutscht.

Die Wirklichkeit in ihrer Lehrgangsbeschwörung hatte Farocki früher schon einmal aufgesucht. „Die Schulung“ (1986/87) zeigt ein Seminar, in dem Manager in Rollenspielen lernen sollen. Sie agieren als Arbeiter und Manager in einem betrieblichen Konflikt und spielen so echt, daß man an dem fiktiven Charakter der Veranstaltung fast zweifeln könnte. So inszenieren sie auch ein Modell über das Verhältnis von Simulation und Wirklichkeit in ihrem Beruf. Farocki schrieb dazu: „Die Manager, die Manager spielten, machten das sehr gut. Zugleich machten sie jede vorstellbare Firma zu einer Scheinfirma, das vorgestellte wirkliche Geld zu Spielgeld. Das Spiel der Manager stellte ihre Arbeit dar und erwies, daß die Managerarbeit Darstellung und Spiel ist. Zu sehen waren Manager, die eine Technik übten, und zu sehen war das eine im anderen.“

Die gespielte Wirklichkeit wird im Spiel symbolisch verdichtet und zur Kenntlichkeit hervorgetrieben. Noch deutlicher als in „Leben – BRD“ verlieren in „Die Schulung“ die Begriffe, die in der industriellen Produktion noch eindeutig waren, ihre Trennschärfe. Was Arbeit, was Nicht-Arbeit ist, scheint in der Dienstleistungsgesellschaft zu verschwimmen. Farocki sagt dazu: „Mir fiel schon bei dem Managerfilm auf, daß dieser Schulungsbetrieb nicht rational begründet ist. Es geht dabei eher darum, eine Religion des Kommerziellen zu fundieren. Und diese Schulungen sind ihr Gottesdienst. Anders gesagt: Die Abschaffung der Arbeit durch Maschinen im Bereich der Produktion – die es auch im Büro gibt – greift auch die sogenannten Führungskräfte an. Sie geraten ideologisch unter Druck, weil sich die Frage stellt: Braucht man eigentlich noch persönliche Herrschaft im Arbeitsleben? Vielleicht ist die gar nicht mehr nötig. Und die Schulungen sind daher in Wirklichkeit Selbstrechtfertigungen: Veranstaltungen, um das eigene Selbstbewußtsein zu fördern.“ So weist „Die Schulung“ auf eine fundamentale Veränderung hin: Arbeit wird zur Inszenierung von Arbeit. Und dieser Zwang, sich selbst darzustellen, wird um so größer, je unanschaulicher und immaterieller die Arbeit ist. Farockis Beobachtungen des imaginierten Arbeitslebens konzentrieren sich nicht zufällig auf das Angestelltenmilieu. Dort ist der Umgang miteinander viel stärker symbolisch vermittelt – über Sprache und körperliche Selbstinszenierung – als bei körperlicher Arbeit.

Der Mensch als Endverbraucher

Zurück zur Eingangsfrage: Was geschieht, wenn der Gesellschaft die Arbeit ausgeht? Der Sozialphilosoph André Gorz hat sich in „Wege ins Paradies“ mit den gesellschaftlichen Folgen der Revolutionierung der Arbeit befaßt. Er sagt, daß die Kernbelegschaften immer weiter reduziert werden zugunsten der Arbeitnehmer mit befristeten Verträgen. Das habe zur Folge, daß der Arbeitsplatz nicht länger Hauptquelle sozialer Zugehörigkeit und Identität bleiben werde. Zudem leite die mikroelektronische Revolution das Zeitalter der Beseitigung der Arbeit ein. So verschwindet die (Erwerbs-)Arbeit in mehrfacher Hinsicht: quantitativ, als materieller, sichtbarer Produktionsprozeß und als zentraler, identitätsstiftender Ort.

Eine Ahnung, wie das Leben jenseits der Arbeitsgesellschaft aussehen könnte, hat Harun Farocki 1993 formuliert. „Ein Tag im Leben der Endverbraucher“ montiert aus Werbefilmen einen Tagesablauf. Am Anfang räkeln sich Menschen im Bett, Frauen duschen, Männer frühstücken und gehen zur Arbeit. Stets zeigen die Reklamespots ein kleines soziales Drama, in dem die Ware als Erlösung auftaucht. Wenn der Kaffee wunderbar ist, ist es auch die Ehefrau. Farocki persifliert damit nicht nur die Konventionen des Erzählkinos; er probiert gleichzeitig aus, was man mit Werbung erzählen kann. So wird das Menschenbild einer Gesellschaft freigelegt, die ihre Mitglieder immer weniger als Produzenten und immer mehr als Konsumenten braucht. Farockis Montage erhellt den finsteren Entwurf einer Welt, in der die Individuen nur noch als Funktionen der Waren in Erscheinung treten. Das ist die böse Antwort auf die Frage, was geschieht, wenn die Arbeit verschwindet und der Konsum zum zentralen Medium der Vergesellschaftung wird: der Mensch als Endverbraucher.

Das Berliner Zeughaus-Kino zeigt ab morgen eine umfassende Werkschau der Filme Harun Farockis. Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Beitrags für das Buch „Der Ärger mit den Bildern – Die Filme von Harun Farocki“, das im März im UVK Medien erscheint.