Landflucht als Rettung vor dem Terror

Aus Angst vor Massakern verlassen in Algerien die Bewohner ganzer Dörfer ihre Heimat. Sie ziehen in die Städte, doch dort erwartet sie das Elend. Wer nicht bei Verwandten unterkommt, landet in Notquartieren  ■ Von Reiner Wandler

Madrid (taz) – Auf überfüllten Lkws, im Auto oder zu Fuß – nach den Massakern in der Region im westalgerische Ouarsines-Gebirge, bei denen seit Beginn des Fastenmonats Ramadan am 31. Dezember mehr als 900 Menschen starben, suchen die Bewohner ganzer Dörfer ihr Glück in der Flucht. Denn allein in den vergangenen drei Tagen wurden mehr als 170 Menschen ermordet, meldete die Algerische Presse gestern.

Zu Tausenden machen sich die Menschen auf den Weg in die Provinzstädte Relizane oder Oued R'houi, wo viele schwerverletzte Verwandte im Krankenhaus haben. Andere ziehen Richtung Oran oder Algier weiter. Dem Aufruf der Regierung, „vor den Terroristen das Feld nicht zu räumen“, wollen nur wenige folgen. Zu grausam ist der Terror der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA).

Ihres Ackerlandes und der Schafherden beraubt, erwartet die Flüchtlingsfamilien das pure Elend. Armee und Polizei versuchen, den Menschen Gelände vor den Toren der Städte zuzuweisen. Doch vielen erscheint das zu unsicher, sie ziehen weiter in die Innenstädte. Wer nicht bei Angehörigen unterkommt, kampiert in improvisierten Zelten. Selbst im Zentrum der Hauptstadt Algier wurden Notquartiere errichtet. Moscheen und die Hilfsorganisationen der gemäßigt islamistischen Parteien MSP-Hamas und Ennahda versorgen sie notdürftig mit Lebensmitteln. Die Ramadan-Restaurants – Solidaritätssuppenküchen, die jedes Jahr während des Fastenmonats eingerichtet werden – quellen über, und die Menschen schauen abwartend Richtung Brüssel. Nach dem deutschen Außenminister Klaus Kinkel hat jetzt auch sein britischer Kollege Robin Cook für humanitäre Hilfe der EU plädiert.

Genaue Zahlen über die Flüchtlinge vermag keiner zu nennen. „Die algerischen Sicherheitskräfte geben sie nicht heraus“, beschwert sich der Vorsitzende der Algerischen Liga für Menschenrechte (LADH), Abdenour Ali Jahia. „Was hier passiert, ist ein offener Krieg und keine ,Restgewalt‘, wie die Regierung immer wieder behauptet. Es liegt auf der Hand, daß die Armee nicht in der Lage ist, die Menschen zu schützen“, sagt der Anwalt, und fordert einmal mehr einen Dialog zur nationalen Aussöhnung mit all denen, die bereits die Waffen niedergelegt haben.

Die Regierung lehnt dies ebenso ab wie eine internationale Untersuchungskommission. Sie setzt weiterhin auf eine militärische Lösung. Armee-Einheiten rücken auf die Berge rund um Relizane vor. Doch die Flüchtlingsstrom kann das nicht stoppen. Die Menschen wissen, daß auch in der Mitiya, dem Todesdreieck vor den Toren der Hauptstadt Algier, die GIA nach wochenlangen Militärrazzien noch immer in der Lage sind, Dörfer zu überfallen und Überlandbuse zu stoppen. Mehr als 150 Tote in der vergangenen Woche beweisen dies.

Für die Flüchtlinge ist offensichtlich: Die 130.000 Soldaten, noch einmal so viele Polizisten der Spezialeinheiten und 200.000 Mann in den Selbstverteidigungskomitees reichen nicht, um den besiedelten Teil Algeriens, einen kaum 300 Kilometer breiten Streifen entlang der 1.200 Kilometer Küste, zu schützen. Das gaben vor wenigen Tagen sowohl der Militärkommandeur für Westalgerien, General Kamal Abderrahmane, als auch der Chef der Spezialeinheiten, Cherif Fodil, zu: „Wir können nicht hinter jedes Haus einen Soldaten stellen.“ Entweder die Menschen bewaffnen sich oder ziehen in die Städte. Viele haben sich für letzteres entschieden.