Zum Ausspannen: Anarchie

Wahlkampf im Osten, Rot-Grün in NRW – auf ihrer Klausur diskutiert die grüne Bundestagsfraktion Pragmatisches. Abends guckt man Filme aus wilderen Zeiten  ■ Aus Wörlitz Dieter Rulff

Wörlitz (taz) – Wann durfte man schon mal mit ansehen, wie sich die Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen mit tränenerstickter Stimme über den Druck beklagt, dem sie ausgesetzt sei, und ihre Fraktionskollegen ermahnt, man könne nicht so miteinander umgehen, wie man miteinander umgehe. Wann hat man schon mal erlebt, daß Joschka Fischer darüber lamentiert, daß sich „die verschiedenen Grünen-Fraktionen vor allem an ihren Psycho- Kisten ausmachen“.

Man hat – 1983, als die erste Fraktion frisch in den Bundestag eingezogen war und ihre politischen Häutungen vor laufenden Kameras zelebrierte. Knapp fünfzehn Jahre später bietet eines der damals produzierten filmischen Dokumente der Fraktion abendliche Entspannung nach stundenlanger Klausurdebatte. Die Klausur findet mittlerweile zu jedem Jahresbeginn im Gasthof „Zum Stein“ im sachsen-anhaltinischen Wörlitz statt – selbstverständlich hinter verschlossenen Türen.

Der Ausschluß der Öffentlichkeit ist nicht das einzige, was sich seit dem ersten heißen Sommer der Anarchie, wie Fischer ihn nennt, geändert hat. Ist man unter sich, geht's auch nicht mehr ums Befinden, ja der Beobachter vor der Tür kann noch nicht einmal sicher sein, daß dahinter über das geredet wird, was als Tagesordnung angekündigt wurde. „Wahlkampfauftakt 1998 in Sachsen-Anhalt“ war als Gegenstand der Erörterung angesagt, doch die Gedanken der Abgeordneten ergründeten vierhundert Kilometer weiter westlich die verbliebenen Auswege aus dem drohenden Garzweiler-Loch.

Ein Bruch der Koalition in Nordrhein-Westfalen hätte gravierende bundespolitische Auswirkungen. Nicht nur der Fraktionssprecher Fischer befürchtet eine Veränderung der strategischen Ausgangslage. Andererseits liegen bei so manchem Grünen in Nordrhein-Westfalen die Nerven blank. Die Bundestagsabgeordneten von Rhein und Ruhr legen von daher Wert darauf, daß aus Bonn keine klugen Ratschläge kommen. Deshalb übt sich die Bundestagsfraktion in einer Selbstbeschränkung, die aus dem Munde ihres Pressesprechers etwa so lautet: „Jede Entscheidung des Parteitages in Jüchen wird solidarisch begleitet.“

Nun gibt es auch bei den Grünen – das war allerdings schon 1983 so – einen mehr oder minder großen Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten. Keiner auf der Fraktionsklausur will öffentlich Ratschläge erteilen, aber die Botschaft, die von der Diskussion ausgehen und ihren Weg zu den Parteifreunden nach Nordrhein-Westfalen finden soll, lautet: Keiner in der Fraktion wünscht sich einen Ausstieg aus der Koalition in Düsseldorf.

Zwar sieht eine Reihe von Abgeordneten ein Glaubwürdigkeitsproblem, sollte man jetzt klein beigeben. Doch letztendlich fällt die politische Gewinn- und Verlustrechnung, die in Wörlitz aufgemacht wird, eindeutig aus. Der Glaubwürdigkeitsgewinn bei einem Ausstieg ließe sich nicht verwerten, er müßte schließlich in die gleiche Koalition mit der SPD wieder investiert werden. Das Ansinnen eines eher jüngeren Abgeordneten, die Glaubwürdigkeit doch als eine werthaltige, langfristige Anlage der Grünen zu betrachten, die nicht kurzfristigen Koalitionserwägungen zu opfern sei, wird von dem etwas älteren Helmut Lippelt mit dem Verweis abgekanzelt, daß die Grünen nicht alle Zeit hätten, jeder Generation aufs neue ihre eigenen Erfahrungen zu ermöglichen. Auch darin unterscheidet man sich mittlerweile von den Anfängen der Fraktion.

Die Kalküle, die gegen einen Koalitionsbruch ins Feld geführt werden, sind natürlich von den Verlusten bestimmt, die man anderenfalls auf Bundes- als auch Landesebene erfahren würde. Eine Revitalisierung der FDP in Düsseldorf wird da ebenso befürchtet wie eine Große Koalition in Bonn. Wesentlich entscheidender als diese Negativbilanz war für die Haltung der Fraktion jedoch die Aussicht, im Falle einer rot-grünen Koalition in Bonn durch Veränderung der bundespolitischen Eckdaten der Energiepolitik das Projekt Garzweiler unrentabel werden zu lassen.

Der dortige Braunkohletagebau wäre sicher eines der ersten Opfer einer ökologischen Wende. Und auch wenn Clement als Sieger aus dem aktuellen Konflikt hervorgehen sollte – ungeschoren sieht ihn die Grünen-Fraktion deshalb noch nicht davonkommen. Auch wenn Clement sich damit dem ersehnten Stuhl des Ministerpräsidenten ein ganzes Stück näher sieht – etwa wenn Rau sich auf das Bundespräsidentenamt 1999 vorbereiten sollte –, braucht er auch die Stimmen der Grünen im Düsseldorfer Landtag. Und dann, so wurde sinniert, könne über den Koalitionsvertrag neu verhandelt werden.

Bis dahin, so wurde spekuliert, könnte sich innerhalb der SPD mit Franz Müntefering vielleicht ein Ministerpräsidentenkandidat durchgesetzt haben, der besser zu einer rot-grünen Koalition paßt. Öffentlich wurden solche Überlegungen auf der Klausurtagung in Wörlitz selbstverständlich nicht geäußert – man mischt sich eben nicht in die Belange der SPD ein.