Wer hätte das alles gedacht?

■ Literaturzeitschrift „Stint“erfreut zum 22. Mal mit einer seltsamen Textmischung aus Bremen und der Welt

„Eberhardt erhob sich aus einem abgründigen Traum. Er ging zu Lisbeth hin, kniete vor ihr nieder und küßte ihre Hände. Sie erschrak und war so erregt, daß sie zu weinen begann.“Was hat das Mädel nur angestellt, daß ihr so Schreckliches widerfuhr. Ah, elf Zeilen drüber steht's: „Sie sprach Eberhardts Verse.“Haben wir's schon wieder. Dieser Chauvi, nichts als verliebt in sein eigenes lyrisches Machwerk.

Anschließend machen sich Eberhardt mit noblem dt, Lisbeth mit feinem th und eine Handvoll gleichversonnener, junger Menschen viele Mundvoll Gedanken, ob man Schriftsteller werden soll. Kann man das Wagnis eingehen? Oder nicht? Eine Welt voller Fragen! Weiter gleitet unser sinnsuchendes Auge ein wenig ratlos über zwei Seiten Schimpfen-über-Bremen-und-umzu: „Hier gedeihen keine Dichter. Das Land... hat zu wenig Blut und Wärme. Und die Menschen... haben zu wenig offenes und bereites Gefühl.“Süddeutsche können da nur zustimmen, ...aber“, was aber?, „es lebt hier doch ein stiller Sinn für die Kunst. Sehen Sie sich die Kunsthalle an.“Mensch. Hat doch noch gar nicht wiedereröffnet!

Ach so. Wir sind im Jahr 1927; mitten in einem Text von Josef Kastein gelandet. Bremer Autor. Junge Menschen waren offensichtlich schon vor 70 Jahren arrogant, blöd, borniert – und damals zu allem Unglück auch noch getuehaft-pathetisch.

Auch die 22. Ausgabe des Stint präsentiert eine seltsame Mischung literarisch-fossiler Ausgrabungen aus Region und Übersee, großer Namen alter Herren (Kafka, Hein, Bordsky), weniger bekannter Schriftsteller aus sämtlichen Weltgegenden (Ahmedabad/Indien, Kaniw/Ukraine und – besonders schön – Heinzendorf/Schlesien) und ebenso unbekannter Schriftsteller aus sämtlichen Vororten von Bremen und Hannover. Nette Menschen wählen für solche qualitativen und geographischen Sprünge den Begriff multikulti, gemeinen Menschen flaust das Wort kolonial durch den Kopf: Bremen – und der kleine Rest der Welt.

Natürlich könnte man sich fragen: Warum um Himmels Willen Kasteins liebenswert dämlichen Knie-Rutschern und Daseinsverzweiflern Gehör schenken? Doch bald fängt man an – halb ist es Übermut, halb ist es Langeweile –, die Schwachpunkte der Texte gezielt zu suchen, zu verstehen, zu lieben – und schwups, wird ein spaßiger Sport draus.

Überaus dienlich ist diesem Projekt Brodsky. Ja, es ist dem Stint gelungen, von Joseph Brodsky einen schlechten Text aufzutreiben. Er heißt „Wie Bücher zu lesen sind“und ist eigentlich ganz interessant, nämlich eine interessante Selbstwiderlegung. Erst quält er mit allzu bekannten Bemerkungen über den Wunsch des Schriftstellers, mittels seiner unausrottbaren Texte dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Ein uneleganter Schlenker leitet über zur allgemeinmenschlichen Schwierigkeit, aus Literaturbergen die wenigen Juwelen herauszugraben (eine Anspielung auf die Stint-Mannschaft?), um glücklich bei der gewagten Behauptung anzukommen, daß nur fundierte Lyrikkenntnisse Sicherheit bei dieser Wahl garantieren. Eingebettet in zehn ganze Seiten Weitschweifigkeit: „Je mehr Lyrik man liest, desto intoleranter wird man gegen Weitschweifigkeit jeder Art.“Das entlockt uns ein Schmunzeln. Und ist dieses Schmunzeln nicht der bessere Sinn jeder Literatur?

Aber weiter gehts zu Christoph Hein. Dessen Prosa ist noch immer DDR-geschädigt: karge Kost. Mit einem fast unverschämten Haufen Geduld tröpfelt Hein sensible Beobachtungen aus dem Schulalltag aufs Blatt. Und was sagen die? Daß Schüler froh sind, wenn sie dem Scheißunterricht entkommen können. Daß es Menschen gibt, die im Kleinen Mut beweisen – zum Beispiel in rauchfreien Zonen rauchen. Daß Vierzehnjährige bei einer Modenschau vor allem auf die Präsentation der Unterwäsche lauern. Wer hätte das gedacht?

Der Fairness halber darf nicht verschwiegen werden, daß sich auch nette Texte im Blatt tummeln. Zum Beispiel schreibt Georg Klein eine große Abrechnung über die verlogene Businesswelt. Sein Computer-Vertreter ist abgebrüht, sein Schriftsteller weltfremd. Da fragt man sich schnell – ein wenig weltfremd –, wie eine Geschichte klingen würde, wo mal der Schriftsteller cool sein dürfte, der Computer-Vertreter schusselig. Obwohl Klein die Frage nicht beantwortet, gefällt sein flippiger Schreibstil. Darf er den überhaupt haben als Nicht-Computer-Vertreter? bk

„Stint“kostet 15 Mark