Die Philharmonie des Untergrunds

Jeden Mittwoch um sieben Uhr früh wird bei der BVG das Los über das Schicksal der Bahnhofsmusiker geworfen: guter Verdienst oder Frust an zugigem Ort. Fünfzig Bahnhöfe sind im Angebot, doch nur wenige sind begehrt  ■ Von Thomas Müller

U-Bahnhof Möckernbrücke. Winterlicht im Widerhall von tausend Schritten. Dazwischen steht ein Mann, ganz ruhig, in der gläsernen Brücke über dem Kanal. Aus einem Koffer holt er langsam ein Akkordeon hervor, setzt sich auf den mitgebrachten Schemel und beginnt zu spielen: In einem Augenblick verändert sich die ganze Szene. Wladimir spielt auf zum Tanz, und der Raum hat plötzlich eine Seele.

Als Achtjähriger entdeckte Wladimir seine Liebe zur Ziehharmonika. Er besuchte die Musikschule und später das Konservatorium. Doch in Rußland wurde es schwer für ihn, als Musiker Arbeit zu finden. So kam er vor vier Jahren nach Berlin. „Die Stadt gefällt mir“, sagt er. „Die Leute sind freundlich, und ich kann hier genug Geld verdienen, um davon zu leben.“ Neben vielen kurzfristigen Verträgen, zur Zeit spielt er am Theater der Volksbühne, tragen seitdem auch die Soloauftritte in den verschiedenen U-Bahnhöfen der Stadt zu seinem Lebensunterhalt bei.

Die U-Bahn-Station Möckernbrücke ist einer von fünfzig Bahnhöfen, welche die BVG derzeit als Konzertsäle vermietet. Kasimir aus Bulgarien, ebenfalls Akkordeonspieler und seit dem Mauerfall in Berlin, kennt sie alle; von Alexanderplatz bis Yorckstraße. Jeder Saal hat seine Eigenart, erzählt er, wird wegen seiner Akustik, seiner Windverhältnisse und seiner strategischen Lage entweder geliebt oder gemieden.

U-Bahnhof Stadtmitte ist bei den Musikern das renommierteste Konzerthaus im Berliner Metronetz, dicht gefolgt vom Halleschen Tor. „In Stadtmitte ist die Akustik am besten, und es ist auch wärmer dort als anderswo“, sagt Kasimir. Aber der Hauptgrund für die große Beliebtheit: Als innenstadtnahe Umsteigebahnhöfe sind sie Touristenmagneten, was beide zu lukrativen Standorten macht. Hier finden im Gegensatz zu allen anderen Bahnhöfen auch am Sonntag Konzerte statt.

Etwas mehr als einhundert Mark am Tag verdient Kasimir derzeit mit seiner Musik. Sein Repertoire reicht von bulgarischer Volksmusik über Jazz bis zum französischen Chanson. Bestimmte Vorlieben bei seinen Zuhörern konnte er bislang nicht feststellen. Ende November jedoch beginnt für ihn wieder die Zeit, in der er auch mal Weihnachtslieder spielen müsse. Der Wechsel der Jahreszeiten macht sich aber nicht nur musikalisch bemerkbar. „Jetzt, vor Weihnachten, sind die Leute sehr großzügig. Im Frühjahr läßt das schnell wieder nach, und im Sommer verdient man am wenigsten.“ Deshalb muß Kasimir diesen Winter nutzen: „Ich brauche bald ein neues Akkordeon“, sagt er leise und schaut sorgenvoll auf sein altes Instrument.

Eine gute Alternative zu den U-Bahnhöfen sind zum Jahresende für ihn die Weihnachtsmärkte. Dort könne man am meisten verdienen. Nur, bei Schnee und klirrender Kälte sei es schnell vorbei mit der Virtuosität. „Ich spiele dann immer nur leichte Sachen, das geht auch mit Handschuhen.“ Für den Fall, daß es dann doch zu kalt wird, hat Kasimir meistens auch noch einen U-Bahnhof gemietet. Manchmal hat er Glück, und es ist einer der warmen und einträglichen Plätze. Doch das kann er sich nicht immer aussuchen.

Um nämlich eine möglichst gerechte Verteilung der Standplätze zu gewährleisten, lassen die Berliner Verkehrsbetriebe Fortuna walten. Jeden Mittwoch um sieben Uhr früh werden an einem unscheinbaren Schalter im Bahnhof Kleistpark die „Musikgenehmigungen“ für die kommende Woche erteilt. Jeder zieht zu Beginn ein Los mit einer Nummer. Damit wird bestimmt, in welcher Reihenfolge sich die Musiker ihre Bahnhöfe aussuchen dürfen. Nummer eins bedeutet freie Auswahl. „Wenn die Zahl auf dem Zettel größer als zehn ist, kann man gleich wieder gehen“, sagt Kasimir, „dann sind die besten Plätze weg, bevor man an der Reihe ist.“ In den begehrten Bahnhöfen wechselt so jede Woche das Programm. Und für manchen bedeutet das Los dann, eine kalte Woche mit geringem Einkommen überstehen zu müssen, vielleicht auch mehrere in Folge. Keimt da nicht Mißgunst? „Nein, wir verstehen uns gut und respektieren uns“, beschreibt Kasimir das Betriebsklima in der Philharmonie des Untergrunds. „Ich kenne mittlerweile alle Musiker hier, die meisten schon seit Jahren. Einen Konkurrenzkampf hat es nie gegeben.“ Und durch das Losverfahren hat auch praktisch jeder mal die Chance auf einen Bahnhof erster Wahl. Die Miete richtet sich allerdings nicht nach den Vorzügen der Plätze, die ist überall gleich, ob in Stadtmitte oder Wuhletal: Zwölf Mark derzeit pro Tag und Bahnhof, kalt. Das ist immerhin die Monatsmiete einer kleinen Einzimmerwohnung. Etwas günstiger fahren da schon Leona und Pavel, wenn auch illegal.

Die beiden sind mit Kazoo und Gitarre in den Wagen der U-Bahn-Linie sieben unterwegs und singen Lieder aus ihrer Heimat Tschechien. Daß das verboten ist, wissen sie, aber es kümmert sie nicht. „Bisher hatten wir noch keine Schwierigkeiten“ sagt Leona und lacht, „aber wir sind auch erst seit drei Wochen hier.“ Die Sozialkundestudentin kam eigentlich nur in die Stadt, um Freunde zu besuchen und „den Himmel über Berlin zu sehen“. Die Idee mit der U-Bahn-Musik ist von ihrer Freundin Emma, bei der die beiden zur Zeit wohnen. Emma und ihr Bruder Stephen, beide aus England, spielen schon seit vielen Jahren in den Berliner U-Bahnen Gitarre und leben davon. Mit einigen Freunden sind sie täglich in der U 7 oder der U 1 unterwegs. Für Leona und Pavel ist es „wie eine große Familie hier in der U 7“.

Beide hat es anfangs viel Überwindung gekostet, in der U-Bahn aufzutreten. Doch mittlerweile fällt es ihnen nicht mehr schwer. Sie sind sich einig, daß sie durch ihre Musik anderen etwas geben wollen. Es sei nicht nur das Geld, das sie daran reizt, sondern auch die Möglichkeit der Kommunikation. „Doch die meisten reagieren überhaupt nicht, schauen nicht einmal auf“, sagt Pavel leicht enttäuscht, auch wenn er zugibt, „nicht der beste Musiker“ zu sein.

Dennoch ist sich Leona sicher, einige ihrer Zwangszuhörer schon irgendwie zu erreichen. „Die Leute merken, ob es uns gut geht oder nicht“, meint die Zwanzigjährige. „Wenn wir uns wohl fühlen beim Spielen, bekommen wir auch mehr Geld.“

An der Haltestelle Möckernbrücke steigen die beiden wieder um und fahren zurück in Richtung Bismarckstraße, die Tournee geht weiter. Der Zug verschwindet kreischend in der Dunkelheit. Aus der Ferne schwebt leise eine Melodie herbei.