Wischblätter der Zivilisation

Stahl war das Rückgrat der Industrialisierung, ihr Hirn war aus Lumpen und Holz: In Bergisch Gladbach wird eine Kulturgeschichte der Papiernutzung gezeigt  ■ Von Elke Buhr

Papiergeschichte ist Zivilisationsgeschichte. Das kann einem klar werden, wenn man, die Zeitung zur Linken, das freundlich dankende Klopapier zur Rechten, zur gemütlichen Sitzung in die Intimität des heimischen Sanitärbereichs verschwindet. Vor gut 200 Jahren war der gängige „Arschwisch“ in Mitteleuropa noch Moos, Gras oder Stroh. Erst seitdem Mitte des 19. Jahrhundert Papier zum industriell gefertigten Massenprodukt wurde, eroberte es auch die Aborte.

Die Kombination Plumpsklo plus altes Zeitungspapier zog ganz eigene Lese- und Wischgewohnheiten nach sich. Seit den Fünfzigern erst wandert die Zeitung ohne Umweg über den Hintern ins Altpapier. Das neue Erfolgsduo Klosettpapier plus Wasserspülung ist nicht nur Ergebnis des sinkenden Papierpreises, sondern auch einer kulturgeschichtlichen Tendenz zum Ausschluß des „Schmutzigen“: Die Ausscheidungen des Körpers sind genauso wie Gefühlsausbrüche seit Beginn der Neuzeit immer mehr kontrolliert, eingedämmt und aus den Augen und Nasen der Öffentlichkeit ins Private und Intime verbannt worden. Das weiche und gleichzeitig feste Tissuepapier, mit dem sich die westliche Welt heute abzuputzen pflegt, ist Ausdruck einer Wisch- und-weg-Mentalität, in der gilt: Sauber ist zivilisiert.

Natürlich bedeutete der rasche Anstieg der Papierproduktion ab Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur, daß die hygienische Revolution der Jahrhundertwende genug zum Wischen zur Hand hatte. Die vergangenen 200 Jahre bis heute, so die These einer Ausstellung des Rheinischen Industriemuseums Bergisch Gladbach, sind eine „Papierzeit“. Wenn Eisen und Stahl das Rückgrat der Industrialisierung waren, dann war Papier ihr Gehirn und ihr Zentralnervensystem. Seine Geschichte ist seit dem industriellen Take-off vor allem die Geschichte einer ungeheuren Expansion. Papier ist überall, alltäglich und unverzichtbar. Um 1800 verbrauchte der Mitteleuropäer durchschnittlich ein halbes Kilogramm Papier im Jahr. Heute sind es 200.

Seit über 300 Jahren wird in Bergisch Gladbach Papier hergestellt. Noch heute dominiert die Papierindustrie die Stadt. Sie hat dem Land das Gelände für ein Papiermuseum geschenkt: ein idyllischer Fachwerkbau aus dem 17. Jahrhundert und Produktionsgebäude aus dem 19. Jahrhundert, gelegen an einer beliebten Ausflugsstrecke für das nahe Köln. Das Rheinische Industriemuseum Bergisch Gladbach, das mit der Papierausstellung in der alten Papiermühle den ersten Teil seines Geländes eröffnet, ist Teil eines dezentralen Museumskonzepts: An insgesamt 14 ehemaligen Produktionsstätten der unterschiedlichen Branchen will Nordrhein-Westfalen selbständige Filialen eines Industriemuseums aufbauen. In Bergisch Gladbach soll ab Ende nächsten Jahres eine große Dauerausstellung die Entwicklung der Papierherstellung von der Handschöpfung bis zur maschinellen Produktion zeigen.

Auch bei „Papierzeit“, dem kulturgeschichtlichen Auftakt zu dem Unternehmen Papiermuseum, geht es erst mal um die Grundlagen. Holz liegt herum, Lumpen: Das sind die Rohstoffe. Daraus wird der Papierbrei gemacht. Hinein mit dem Sieb, kurz abtropfen lassen. Und wirklich: Es läßt sich etwas lösen, das aussieht wie Papier. Das erste selbstgeschöpfte Blatt. Zu den weißen Fusseln an den Fingern gesellt sich das angenehme Gefühl, wirklich verstanden zu haben, wie's funktioniert.

Der größte Teil der Ausstellung aber demonstriert einfach, wie und wo Papier überall verwendet wird. Riesige Pizza- und Pillenschachteln zeigen Papier als Verpackung. Es ist nötig geworden, seitdem die Nahrungsmittel nicht mehr im Haus, sondern in der Fabrik bearbeitet werden. Doch die praktische Transportbox ist auch Zeichenträger: Papier als Medium des Marketings, mit dessen Hilfe die Waren mit ästhetischem Mehrwert und Image versehen werden können. Keine Marke, keine Werbung ohne bedruckbare Banderolen, Etiketten, Schachteln und Hüllen.

Natürlich geht es auch um das, was gemeinhin als eigentliche Kulturleistung des Mediums Papier gilt: die Schrift, die auf ihm zu lesen ist, schnell und in großer Menge reproduzierbar. Ausgewählte Werke der Aufklärung sind ausgestellt, per Knopfdruck oder Blick in Fächer und Schubladen kann man sich ihre Thesen erklären lassen. Doch schnell führen die Exponate zum Thema „Lesen und Schreiben“ aus den Höhen des philosophischen und literarischen Schriftfetischismus in die Niederungen der Alltagsschreibe zurück. „Ich brauche nichts als ein Stück Papier und ein Schreibwerkzeug, und ich werde die Welt aus den Angeln heben“, soll Nietzsche gesagt haben. In Wirklichkeit schreibt man doch viel eher Sätze wie „Kopierer defekt“ oder: „Einkaufen: Milch, Eier, Schnitzel“. Wände voller Illustriertencover, Stapel von Zeitschriften erinnern daran, daß die große Masse des Papiers nicht für Kunstdrucke und das gute Buch verbraucht wird, sondern für Arztromane und die Neue Revue oder für den Wegwerfartikel Tageszeitung.

Manchmal kommen Dinge ins Museum, wenn sie dabei sind zu verschwinden. Dem Papier, nicht nur in seiner renommiertesten, zwischen zwei Buchdeckeln gepreßten Form, ist im Zeitalter der elektronischen Medien und der Computernetzwerke schon mehr als einmal der Rückfall in die Bedeutungslosigkeit vorausgesagt worden. Aber noch steigt der Papierverbrauch an, trotz oder gerade wegen der Computerisierung: Schließlich ist es so einfach, auf dem neuen Laserdrucker eben mal einen Ausdruck zu machen.

Die Konsequenzen zeigt die Ausstellung sehr eindrucksvoll in einer sogenannten „dreidimensionalen Statistik“. Da liegt er aufgestapelt, mannshoch getürmt, der durchschnittliche Papierverbrauch für mich und dich: 42 Prozent Zeitschriften, 40 Prozent Verpackungen, Zeitungen und Bücher, 7 Prozent Verwaltungs- und Bürokram, 5 Prozent Taschentücher und Klopapier, 6 Prozent Vermischtes: Fotos, Zigarettenpapier, Papiergirlanden. Einige Meter weiter wird die entsprechende Menge an Rohstoffen verdeutlicht: 7.400 Liter Wasser, ein Stapel Holz, wahrscheinlich aus nicht wieder aufgeforsteten Waldgebieten oder umweltschädlichen Monokulturen, und ein Becken mit Abwässern, hübsch dekoriert mit bunten Fläschchen. Das sind die verschiedenen giftigen Chemikalien, die bei der Papierherstellung anfallen. Für die 200 Kilogramm Papier verbraucht man genauso viel Energie wie das ganze Jahr im Haushalt.

Der Katalog zur Ausstellung, verfaßt vom Ausstellungsmacher Georg Oligmüller, ist übrigens auf neun verschiedenen Papiersorten gedruckt, die jeweils angegeben werden: von „Natural Line“-Büttenpapier bis zu „Zanders Mega matt“. So kommt man auch bei der Theorie auf die reine Materialität des Mediums zurück.

Bis Ende 1998 im Rheinischen Industriemuseum Bergisch Gladbach, täglich außer montags, 10 bis 17 Uhr