■ Ein Rückblick auf das Popkonzertjahr 1997. Eine Reise durch drei Mikrokosmen. Zu Besuch bei Björk, Oasis und Prodigy. Ein Einblick in die sehr kleinen Welten des Popbegehrens Von Benjamin von Stuckrad-Barre
: Doofe Jungs und coole Mädchen

Müde Menschen hängen zum Trocknen in der Kurve oder liegen schlaff am Boden. Wo kommt bloß all der Schmutz her? Er ist ja nicht von den Leuten abgefallen, die sind ja noch schmutziger als vorher. Summe einer Odyssee durch Himmelreiche: drei Städte, drei Künstler, drei Geschlechter. Die Taxifahrer fragen nach jedem Konzert: „War da ein Konzert, oder was?“ Und erzählen dann etwas von „schon nachmittags die Hölle los“. Das ist dann wieder auf der Erde zurück. Die nun wieder.

Wir fahren nach Frankfurt, und es ist völlig klar, daß es ein Frauenkonzert wird. Nicht nur von einer Frau – nämlich Björk –, sondern auch für Frauen. Ganz speziell. Fast nur deshalb habe ich auch meine Lieblingsfrau dabei. Niemals würde man zweimännig zu Björk fahren, das ginge ja gar nicht. Dann unterhält man sich im Auto noch über Fußball oder so. Nun werden sie aber aufmüpfig mit ihren Björk-Platten wedeln, all die Männer. Ja ja, ist schon gut. Natürlich mögen auch Männer Björk, denn alle mögen die ja.

Immer wenn Björk eine neue Platte herausbringt, versteigen sich die Popjournalisten (gerade und nur die Männer) in Selbsterniedrigungen und schreiben die „Elfe“ empor nach Kindchenschema F. Sieht ja so süß aus. Frauen aber ist Björk mehr – Alice Schwarzer und Hera Lind zusammen in Cool. Wie die das alles schafft mit dem Kind und trotzdem noch dauernd neue DJs im Bett, das ist schon famos. Und die Musik, die ist ja auch so schön. Schön.

Deshalb spielt Frau Björk für ihre Frauen (es sind auch Männer da, aber alle mitgenommen und zugeteilt) auch in einer schnöseligen Oper, hoch droben stehen sie sogar verzückt auf der Balustrade! Gleich kommt jemand mit einer Ferrero-Rocher- Pyramide hereingeschwebt, denkt man. Weil es aber Frankfurt ist und ein Popkonzert, werden in der Ecke verschämt Würstchen gegessen. Zum Popkonzert gehen wir, um (Würstchen zu essen, schon gut, und) das Schizophrene auf die Spitze und zur Hölle zu treiben. Wir wollen säkularisieren, anfassen und mit unserer Anreise, der Vorfreude, dem Mitsingen, dem enttäuscht-sehnsüchtigen und auch unterwürfigen „Zugabe! Zugabe!“-Gerufe den Star noch starsinniger machen.

Das mit der Musik ist klar. Jedoch, und das ist es eigentlich: Sie spricht! In echt, mit Akzent! Zu uns. Kreisch! Oder besser: Staun! Denn wenn wir im Fernsehen kleine Mädchen bei den Backstreet Boys sehen, wird gelächelt, und bei Björk dann verhält es (wir!) sich genauso; nur eben leiser. Zu nah an die Bühne gegangen. Die Lieblingsfrau berichtet enttäuscht bis nachsichtig, daß Björk „ganz schön kompakt“ sei, „fast pummelig“. Macht nichts – beziehungsweise: pscht, nicht weitersagen.

Die meisten haben die Augen geschlossen, was aber dumm ist – denn auf der Bühne passieren lauter malerische Dinge. Das Konzert von Björk – nicht anfassen! – kann nur schön gefunden werden, andere Empfindungen sind nicht zugelassen. Das ist Beschlußlage. Die Frauen tanzen selbstvergessen und schreien auf, je älter ein Lied ist. Denn dazu tanzt es sich am einfachsten, und hier, da alle eher schmachten als toben, muß jede Bewegung sitzen. Es ist viel zu warm, der Pullover bleibt angezogen, es riecht nach Hunden, die aus dem Regen kommen.

Inwändig zerzaust blickt eine Menge, die gar nicht Masse ist, zur Bühne. Was dort tanzt und die Klischees betoniert, ist ja dieses Fabelwesen. Auf der ersten Platte war Björk noch in Natura braun-weiß und mit Pullover abgebildet, ganz simpel und: schön! Eine Frau, so dachte man, die es wahrscheinlich sogar wirklich gibt, die auch gut für irgendeine gewaltfrei geschredderte Baumwollkollektion so eines Gymnasiastinnenpulloverfabrikanten wie Esprit oder Benetton werben könnte. Natur! Keine Farbstoffe! Hundertprozentig Baumwolle und hundertprozentig lieb.

Dann hat sich Björk immer mehr zum Püppchen stilisiert. Auf der neuen Platte erkannten wir erst nach drei Wochen: Das ist ja sozusagen Björk, genau die, von der wir einst dachten, es gäbe sie wirklich. Und noch viel schlimmer: Wir dachten, das sei in irgendeiner Hinsicht von Belang. Da hat der Pop uns ja wieder schön genarrt. Ist das nun innovativ oder reißbrettpostmodern?

Ein paarmal gerät Björk mit uns zwischen die Räder und die Gesetzmäßigkeiten einer solchen Veranstaltung – die mit uns auf ihr Recht pocht, das heißt klatscht, und zwar im Takt. Frau Björks Musik regelt das dann in ihrem Verlauf durch Bruch und Antistruktur, sie maßregelt es – dann ist Ruhe im Karton. Mitsingen geht auch gar nicht. Ist so hoch und sprunghaft, viel zu schön auch, als daß ein Massenchor es stadionisieren sollte oder auch nur könnte. Immer mehr Herren stehen jetzt bei den Würstchenständen, ihre Unterhaltungen werden lauter. Die Mädchen haben dadurch mehr Platz da vorne, und sie tanzen im Kreis. Niemand kippt um, keiner tritt auf irgend jemandes Fuß.

Am Wochenende fahren wir zu Oasis nach Berlin. Da kann man sich sehr wohl schon vorher betrinken. Wir sind natürlich jetzt nur Herren. Aus verschiedenen Städten kommen wir mit dem Zug angereist. Treffpunkt im Hotel, wir wühlen in der Minibar, und es gibt sogar eine Badewanne. Erstes Bier und immer so weiter. Es ist mal wieder Zeit, umzufallen bei einem Konzert. Oasis sind ja die Größten, das sagen wir, das sagen die. Völlig wurscht, was die anderen behaupten. Männerbündelei, die gerade noch in Ordnung geht, das erleben wir hier. Nicht wie bei den Toten Hosen, wo gewölbte Witzshirts über Jeans quellen und der Wurmfortsatz der Bundeswehr uns das Fürchten lehrt. Das Klischee der „Jungs“ wird von Oasis durch groteske Übersteigerung der Anfechtbarkeit enthoben, Zugriff verweigert. „I was looking for some action, but all I found was cigarettes & alcohol“ ist ja nun nicht nur irgend so ein Satz, sondern der Satz, einer von den Sätzen, da stimmt dann alles. Denken die Jungs. Und auch, daß die Mädchen aus anderen Gründen da sind, gleichwohl für das Ereignis von tragender Bedeutung.

Denn würden sie nicht Liam begehren und kreischen, daß es weh tut, wäre die Coolness ja nur behauptet, nicht bewiesen. Unlogisch, aber verständlich, daß die Herren trotzdem behaupten: „This one's for the boys.“ Wegen Prollerei und Dosenbier und überhaupt auch Schweinerock. Und weil ja alles so cool ist. Man stünde schon auch gern da oben. Ganz klare Ansage, Noel und Liam steigen aus einer dekorativen Telefonzelle, ihre Blicke fragen, was wir denn nun wieder wollen. Exakt das wollen wir. Und dann geht es aber los, da sind zwar noch drei andere Männer mit dabei oder sogar vier, die aber nicht gut aussehen, aber eben unverzichtbar sind, um das Gefälle zu verdeutlichen.

Undankbarer Job, aber wahrscheinlich gut bezahlt. Sie spielen natürlich auch mit, aber doch keine Rolle, die doch nicht, wie heißen die überhaupt? Und dann ist es passiert, schon beim ersten Gitarrenton, also ganz kurz davor sogar, geht aber so was von einem Ruck durch Adlon-City, und die ersten kippen um. Das gehört dazu, hier besteht den Elchtest, wer umfällt, die anderen sind Weicheier. Oder Mädchen, das ist dann okay. Wir hüpfen, singen, fallen natürlich auch. Wichtig ist nur, wie beim Memory, die einander Zugehörigen möglichst schnell aufzuheben und wieder zusammenzuführen.

Und dann stehen wir auch schon wieder, ziehen noch ein paar kleine Mädchen mit hoch, die gucken dankbar, und der Sänger hat indessen nicht mal die Sonnenbrille abgenommen, wozu auch. Das Konzert dauert gerade eine Minute. Hinterher, viel später, in einer anderen Zeitrechnung, in der Stunde soundso nach Oasis, werden wir bemerken: Uhr verschrammt, Schlüssel weg, Hose schmutzig, Schuhe nicht wiederzuerkennen und das T-Shirt – this one's for the Müll. Lied Nummer vier, es ist laut. Wir wollen es noch lauter. Lauter! Lauter Engländer da, phantastisch. Es ist freundlich, aber natürlich auch nicht unbrutal. Was dann bedeutet: vorn immer mehr Jungs, Mädchen nach dem dritten Sturz nach hinten und gucken und schwärmen, aber mit offenem Mund, ganz klar. Die Jungs würden es nie wagen, dieses Konzert bloß „schön“ zu finden. Schön ist vielleicht das Wetter oder der Tag in der Bierreklame, aber hier muß Freude begründet werden, und das geht ja auch gut. Man kann schwärmend die genaue Songreihenfolge rekonstruieren.

Natürlich verläuft so ein Konzert noch codierter und sind wir noch uniformierter als bei Björk. Ganz bestimmt haben sich die Herren auf der Bühne am wenigsten Mühe gegeben, mühelos cool auszusehen: Das Hemd von Noel ist sogar richtig scheiße, aber der Body ist die Botschaft, ach, der Bierbauch, und er könnte wohl auch Tennissocken – hat er bestimmt auch, der darf das, darf alles.

Nach dem Konzert geht's direkt weiter. Erst das Bier, dann das T- Shirt kaufen, schön schlicht, nur das Logo drauf oder gerade mal der LP-Titel. „Be here now“ ist klarer als Björks waberndes „Homogenic“, das kann ja alles heißen! Das kann nicht nur, sondern will auch unbedingt – alles heißen. Die Ohren piepen. Nach einem Björk-Konzert kann man viele Tage keinen einzigen Ton dieser Dame mehr hören, nach Oasis kann man überhaupt nichts mehr hören, erst mal.

Und am Sonntag geht es in die Kölner Sporthalle. Hier trifft sich dann wohl „die Generation“. Alle sind aus dem Häuschen: die Prolls, die Girlies, die Schachspieler, die Popper, die Rocker, die Ökos, die Punks und die Perlenkettentanten mit Rollkragen sogar auch. Es ist dies ein „Sound“, unserer wohl gar, und wir sind mittendrin, und es gibt überhaupt kein Entkommen. Da tobt der Wahnsinn überall, geh nur mal aufs Klo, da donnert es gleich doppelt im Korridor. Hier stehen keine Jungs auf der Bühne, die schlicht cooler sind als der doofe Rest (wir!), und auch keine Überfrau mit Unterrock.

Es ist die am wenigsten berechenbare Show, meistens ist ja ein Popkonzert nichts anderes als die Wiederholung und Ewigspiegelung des Heißgeliebten, das dann erst als perfekt empfunden wird, wenn es der Kopie entspricht. Alle anderen Behauptungen sind abgestandener Rockistenbrei. Prodigy ist kategorischer Grandioskrach. Man sieht auch Farben, hört sie. Livekameras filmen Auslöser und Aufgelöste, die tanzende Menge. Wir sitzen auf der Tribüne.

Es ist nicht die Angst, zerquetscht zu werden, es ist nur die Angst, etwas zu verpassen. Und man weiß, wenn man die Menge sich vergnügen sieht – man verpaßt ganz bestimmt was. Das ist so realistisch! Denn man verpaßt ja immer was. Bei Oasis konnte man minutenlang glauben, dies sei der Himmel und das Paradies und die Verheißung und nirgendwo sei es gerade schöner. Bei Prodigy im Getobe wünscht man sich auf die Tribüne, und auf der Tribüne fragt man sich, ob man nun bald zur Rentnermanövriermasse gehört.

Nach dem Konzert sieht es nun endlich mal wie nach einem Konzert aus: Müde Menschen hängen zum Trocknen in der Kurve oder liegen schlaff am Boden. Wo kommt der Schmutz her? Er ist ja nicht von den Leuten abgefallen, die sind ja noch schmutziger als vorher. Neonlicht und Würstchenwasser. Die Zukunft des Rock sei gesichert, lesen wir in jedem Artikel über Prodigy, der Rock 'n' Roll nutze seine historische Chance, ganz cool, so um kurz nach zwölf. Stimmt ja. Oasis dagegen retten die Vergangenheit des Rock, was ja noch mehr Zukunft hat. Und Björk rettet erst mal sich selbst, dann vielleicht den Regenwald und all jene, die nicht wissen, was sie ihrer Schwester, die inzwischen woanders wohnt und sich längst aus dem aktiven Popgeschehen zurückgezogen hat, zu Weihnachten schenken sollen. Ist zur Not auch gut zum Weiterverschenken, die darf in keinem Haushalt fehlen, die Björk.

Weder aber die Jungs von Oasis noch die Hose, die das Konzert durchlitt, sind zu retten. Ihnen gehört das Himmelreich. Das ist ja auch schon mal was. Drei Städte, drei Künstler, drei Geschlechter. Der Taxifahrer fragt aber nach jedem Konzert: „War da ein Konzert, oder was?“ Und erzählt irgend was von „schon nachmittags die Hölle los“. Das ist dann wieder die Erde. Die nun wieder.s