■ Vorschlag
: Kino gegen das Kino: Zwei Filme des Lettristen Lema i tre im Arsenal

Am Anfang von Jean Cocteaus Film „Orphée“ (1950) hat ein junger wilder Dichter einen Auftritt. Der schöne Jüngling ist als Poet so radikal, daß er die Dichtung kurzerhand abschafft: Sein erstes Buch, das ihn zum gefeierten Nachwuchsautor macht, enthält nichts als leere Seiten. Cocteau nahm sich für seinen Film ein real existierendes Enfant terrible der Pariser Kunstszene zum Vorbild: den Rumänen Isodore Isou. Der war als Dichter fast soweit gegangen wie Cocteaus Film-Poet: Seine Gedichte und die der Lettristen – einer Gruppierung, die Isou 1946 in Paris gegründet hatte – lasen sich wie der reine Nonsens. Sie bestanden teilweise nicht mal mehr aus Worten, sondern aus Bildern.

Es war naheliegend, daß sich die Lettristen auch für das Kino interessierten. Seit Anfang der 50er Jahre machte Isou Filme aus „Found Footage“, aus gefundenem Filmmaterial, das er zu philosophisch-thesenhaften Essayfilmen montierte. Heute abend zeigt das Künstlerhaus Bethanien im Arsenal zwei Filme von Isous zeitweiligem Assistenten und Schüler Maurice Lemaitre. Beide Filme werden zum erstenmal in einer übersetzten Fassung gezeigt. „Le film est déjà commencé?“, heißt Lemaitres erster Film von 1951, was man mit „Hat der Film schon angefangen?“ übersetzen könnte. Darin experimentierte Lemaitre nicht nur mit gefundenen Bildern, sondern auch mit Zeichnungen, Worten, Buchstaben, Zahlen und Symbolen und nahm vorweg, was Godard fast zwanzig Jahre später in seinen kurzen „Cine-Fracts“ anstrebte, die im Mai 1968 entstanden: eine Art Kino gegen das Kino, das die filmische Grammatik einer radikalen Überprüfung unterzieht.

„Le soulèvement de la jeunesse“, der zweite Film, handelt vom Pariser Mai 68. Daß Lemaitre sich dafür interessierte, ist naheliegend: Die Lettristen und die Situationisten der 60er Jahre waren auch eine Art intellektueller Vorhut der französischen Studentenbewegung. Näheres dazu wird man heute abend dem einleitenden Vortrag des Hamburger Kunsthistorikers und Situationismus-Experten Roberto Ohrt entnehmen. Tilman Baumgärtel

„Le film est déjà commencé?“, 10.1., 21.00 Uhr, Arsenal, Welser Str. 25, Berlin-Schöneberg