Medizin von unten betrachtet

Auf dem dritten bundesweiten Kongreß „Armut und Gesundheit“ an der TU Berlin wurde dem Standort Deutschland soziale Bindegewebsschwäche diagnostiziert
■ Von Matthias Fink

Ein Forum, auf dem medizinische Probleme, die durch Armut entstehen, diskutiert werden, soll er bieten: der bundesweite Kongreß „Armut und Gesundheit“, der – bereits zum dritten Mal – im Dezember in der Technischen Universität stattfand.

Immerhin eine erfreuliche Meldung konnte die „MUT Gesellschaft“, ein von der Berliner Ärztekammer geführtes Wohlfahrtsunternehmen, zu Kongreßbeginn beisteuern. Die Ärztin Jenny De la Torre, die für die MUT arbeitet, wurde von der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) zur ambulanten medizinischen Versorgung ermächtigt. Vor einem Jahr war ihr dies noch abgelehnt worden, inzwischen bescheinigte die KÄV, daß unter den Patienten, die die von De la Torre geleitete Ambulanz im Hauptbahnhof aufsuchen, nun doch genügend Krankenversicherte sind. Günstig für die politische Unterstützung hatte wohl auch gewirkt, daß Bundespräsident Roman Herzog (CDU) De la Torre einen Orden verliehen hatte.

Schlechte Meldungen gab es weitaus mehr. Viele Entwicklungen – etwa die wachsende Armut in der Ost-BRD – sind schlichtweg zu neu und werden nicht erfaßt. Drastisch zeigte sich dies beim Thema der „illegalen“ Flüchtlinge in Deutschland. Wer nicht bei der Ausländerbehörde registriert werden möchte, wird indessen nicht seltener krank als andere, sondern ist eher noch anfälliger, etwa für streßbedingte Krankheiten. Einige Teilnehmer berichteten von Menschen, die sich in Berlin nicht in ärztliche Behandlung trauten und deswegen zu Tode kamen. Daß diese wachsende Zahl von illegal Eingewanderten oft ausgeblendet wird, scheint nicht nur an bürgerlichen Berührungsängsten und konspirativer „Outlaw“-Romantik zu liegen. „Die medizinische Ausbildung begreift nicht, daß Randgruppenprobleme prototypisch für die Medizin sind“, kritisierte Professor Karl-Friedrich Wessel von der Humboldt-Universität seine medizinische Zunft. Auch andere Nichtdeutsche würden mit zunehmendem Aufenthalt in Deutschland gesundheitlich immer anfälliger, berichtete Riza Baran von Bündnis 90/Die Grünen. Immer wieder höre er von Migranten: „Ich wußte nicht, daß ich hier zum Arzt gehen darf.“

Weiteres Problem ist die Verständigung: „Es gibt nicht genug Dolmetscher“, erzählte eine Kongreßteilnehmerin. „Oft zieht man Putzfrauen oder Bekannte heran, wenn man sich sonst beim Arzt nicht verständlich machen kann.“ Ob mehr muttersprachliche ÄrztInnen oder mehr DolmetscherInnen benötigt werden, diskutierte man. Größere Gräben zeigten sich, als die Fachgruppe „MigrantInnen“ auf kulturelle Unterschiede zu sprechen kam. Diese werden etwa für Fehldiagnosen in der Psychiatrie verantwortlich gemacht. Ein türkischer Berliner Arzt sprach seien Landsleuten in der Kollegenschaft besondere Kompetenz zu, die Gesundheit von Berliner TürkInnen zu bewerten: „Wenn sie ihre eigenen Leute nicht kennen, wer kennt dann die Leute?“ – „Ihr nicht“, habe sie da herausgehört, monierte eine deutsche Kollegin.

Ein Beispiel aus dem Bereich der Arbeitslosigkeit lieferte Marie- Anetta Beyer vom Arbeitslosenzentrum Hohenschönhausen: „Sagt der Arbeitslose: ,Es geht mir schlecht‘ reagiert die Umwelt: ,Typisch Arbeitsloser – passiv und jammernd – kein Wunder, daß er keine Arbeit bekommt.‘ Sagt der Arbeitslose: ,Es geht mir gut‘, reagiert die Umwelt mit Staunen oder – aha, der lebt auf Kosten meiner Beitragsgelder‘.“

Andere Barrieren werden von beiden Seiten her aufgetürmt. Professor Karl-Heinz Grohall beschreibt die Stigmatisierung alleinstehender Wohnungsloser: „Man beschränkt sich im sozialen Kontakt auf Gleichgesinnte, denn alle anderen weichen ja zurück. Das führt so weit, daß man die Benachteiligung selbst zu einer Überlebenskompetenz stilisiert.“

Andererseits würden Verhaltensweisen oft voreilig als verschroben abgetan, berichtete Annette Greifenhagen, Psychiaterin aus München. Sie erfuhr von einer „Tütenfrau“, warum die sich so scheinbar grotesk „vermummte“. Damit schütze sie sich für den Fall, daß „nachts jemand kommt und mich vergewaltigen will. Bis der meine ganzen Schichten auspackt, gibt er lieber auf.“

„Wie der soziale Zusammenhalt zerreißt, das spürt man in der Arztpraxis schneller als im Parlament“, meint Berlins Ärztekammer-Präsident Ellis Huber. Das „soziale Bindegewebe“ sei das zentrale Problem des „Standorts Deutschland“, resümierte er und schlug ungewohnte Töne an: „Die Amerikaner geben 5 Prozent mehr vom Bruttoinlandsprodukt für Gesundheit aus. Bei uns hieße das, daß 200 Millarden Mark mehr zur Verfügung stehen würden.“