■ Ökolumne
: Fluchtgedanken Von Gerd Rosenkranz

Die RWE-Bosse in Essen rudern gegen den Strom. Seit bald zehn Jahren. Gegen zähe Atomkraftgegnerinnen, störrische Bürgermeister, ausgebuffte Anwälte, penible Richter und gegen die Stimmung im Lande.

Neuerdings rudern sie auch gegen die Zeit. Am Mittwoch entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in Berlin über den jüngsten Anlauf des Stromkonzerns RWE, den Atommeiler in Mülheim-Kärlich wieder ans Netz zu bringen. Vor zehn Jahren war er höchstrichterlich zwangsgeschlossen worden. Wenn das Gericht Mühlheim-Kärlich nun doch aus dem Dornröschenschlaf wecken sollte, könnte es zu spät sein. Dann könnte es passieren, daß die Ökonomen bei RWE ihre Zahlenkolonnen auf den neuesten Stand bringen und plötzlich zu dem Schluß kommen: Aus, Ende, der Atommeiler rechnet sich nicht mehr.

Natürlich werden sie routinemäßig jammern: über krankhafte Fehlentwicklungen am Standort Deutschland, über Selbstblockade, ideologiegetränkte Technikfeinde und richterliche Einfalt. Alles Lüge.

In Wirklichkeit macht sich unter den Atomstromern Abschiedsstimmung breit, völlig unabhängig von dieser oder jener Gerichtsentscheidung. Jahrzehntelang galten Atomkraftwerke den Gegnern der nuklearen Stromerzeugung als unkalkulierbares Risiko, jetzt werden sie für ihre Betreiber ein kalkulatorisches. Die kühlen Rechner in den Konzernzentralen reagieren auf eine Entwicklung, die die ineinander verbissenen Kampfverbände des dreißigjährigen Krieges um die Atomkraft erst ganz allmählich wahrnehmen.

Ein rund um den Globus aus den Fugen geratener nuklear-ökonomischer Rahmen fördert bei den Stromriesen das neue Denken. Vor allem das an Flucht. „Schuld“ ist die Deregulierung und Globalisierung der Energiemärkte, verbunden mit gewaltigen Fortschritten in der fossilen Kraftwerkstechnik — bei gleichzeitigem Preisverfall. Das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) errechnet für neue Atommeiler inzwischen dreimal höhere Investitionskosten als für moderne erdgasbetriebene Gas- und Dampfkombikraftwerke (GuD). Niemand, nicht mal Siemens, widerspricht. Als erstes fällt der „Europäische Druckwasserreaktor“ (EPR) in die Ökonomiefalle. Keiner will ihn bezahlen. Das einzige Zukunftsprojekt der europäischen Reaktorindustrie hat seine Zukunft hinter sich, bevor die Baupläne fertig sind. Wer zu spät kommt, den straft das Leben.

Selbst vollständig abgeschriebene Atommeiler konkurrieren künftig mit nagelneuen GuD-Anlagen — und geraten sogar da auf die Verliererstraße. Der Chef der Hamburgischen Electricitätswerke (HEW), Manfred Timm, denkt laut darüber nach, „das Kernkraftwerk Brunsbüttel stillzulegen und statt dessen mit Gas weiterzumachen“. Spätestens, wenn die Erdgaspreise im Zuge der Deregulierung des europäischen Gasmarktes weiter sinken, wird es soweit sein. Das Phänomen ist nicht auf Europa beschränkt. Die Hälfte der 107 US-Atomkraftwerke, glaubt Timm, geht in den kommenden fünf Jahren den Bach runter. Die ostasiatische Reaktorindustrie überlebt (noch), weil dort als Alternative nur teures Flüssiggas gehandelt wird.

Das lange Siechen der Atomenergie schwenkt ein in seine dritte, entscheidende Phase, den Ausstieg. In Wyhl, Grohnde, Brokdorf, Hamm-Uentrop, Kalkar und Wackersdorf bremste die Anti-AKW-Bewegung die Atomeuphoriker der frühen Jahre auf Normaltempo herunter — und bewahrte die deutsche Volkswirtschaft unfreiwillig vor der mutmaßlich größten Ressourcenvergeudung ihrer Geschichte. In Düsseldorf, Wiesbaden, Kiel, auch in Hannover brachten atomkritische Genehmigungsbehörden mit ihrem „ausstiegsorientierten Gesetzesvollzug“ Reaktorbauer zum Stillstand. Nun läuten die hauseigenen Wettbewerbsprüfer in den Konzernzentralen die Phase drei, den Rückzug, ein. Allerdings ganz anders, als es sich die Zaunkämpfer einst erträumt hatten.

Egal: Als vor fünf Jahren die Chefs von RWE und Veba überraschend das „geordnete Auslaufen“ ihrer Altmeiler in Aussicht stellten, scheiterten die anschließenden Gespräche an den geforderten „Restlaufzeiten“ von 25 plus x Jahren und an der Option des Wiedereinstiegs. Und heute? Neue Verhandlungen könnten interessant werden. Mit neuen Daten. Mit einer neuen Regierung. Und ohne ideologischen Ballast.