Studierende: Was wollen wir?

Zwei Monate nach dem Beginn der Uni-Streiks will der bundesweite Kongreß „Bildung und Gesellschaft“ dem Protest ein inhaltliches Gewicht verleihen  ■ Aus Berlin Ralph Bollmann

Miriam steht vor der Tafel, ein Baby nuckelt an ihrer Brust. „Wir müssen wieder lernen, uns zu wundern“, spricht die Philosophiestudentin aus Paderborn zu ihrem Publikum. Während sie ihre Tochter stillt, redet sie vom Streik „als Zeit der Bewußtwerdung“. Rund 100 Studenten lauschen im Hörsaal 2029 der Berliner Humboldt-Universität dem Vortrag über „Hochschule und Gesellschaft“ — und wundern sich überhaupt nicht. Als Miriam ihr Referat beendet hat, gehen sie kommentarlos zum nächsten Tagesordnungspunkt über: zur Erläuterung der Geschäftsordnung.

Daß gestern morgen alle thematischen „Obergruppen“ mit dieser Formalie begannen, entbehrt nicht der Ironie: War es doch das erklärte Ziel des bundesweiten Kongresses „Bildung und Gesellschaft“ (BuG), „die inhaltliche Seite des Protests öffentlich zu machen“. Diese „Inhalte“, so erklärte Organisator Patrick Berg auf dem Eröffnungsplenum am Donnerstag abend, sollten aber ganz und gar den Teilnehmern überlassen bleiben. „Das Mikro ist frei“, rief er den verdutzten Zuhörern zu, „das ist euer Kongreß, also nehmt ihn euch.“ Für einen Moment war es im größten Hörsaal der Technischen Universität ganz still, doch schnell bildeten sich Schlangen vor den Saalmikros.

Rund 2.000 Studenten aus 80 Hochschulen haben den Weg nach Berlin gefunden, um bis Sonntag einen „Maßnahmenkatalog“ zu erarbeiten. Auch 44 Spitzenpolitiker waren eingeladen. Die Hälfte von ihnen sagte „aus Termingründen“ ab, die übrigen antworteten überhaupt nicht. Die Studenten versprechen sich von ihnen ohnehin nichts mehr. „Die Lösungen werden wir nicht bei der Politik finden“, sagte der Berliner Student Jan Köster, „wir können sie nur selber finden.“ Auf wenig Gegenliebe stieß folgerichtig der Vorschlag eines Studenten aus Marburg, eine „neue, unverbrauchte, wirklich innovative Partei“ bei den nächsten Wahlen „in den Bundestag“ zu führen. „Ich frage mich, was wir da wollen“, tat der nächste Redner den Vorschlag ab.

Am ersten Kongreßtag zeichnete sich nur schemenhaft ab, welche Art von Uni-Reform die Studenten wollen. „Warum soll denn die Uni sich verändern?“ fragte provokant ein Berliner Student in der Veranstaltung zu Inhalt und Organisation der Lehre. Er stimmte gar den „konservativen Professoren“ zu, daß Wissenschaft auf der „Einsamkeit und Freiheit“ des Forschers beruhe. Einzelne studentische Projekttutorien brächten nicht viel, „das Studium selbst ist ein Projekt“.

Viele Teilnehmer beklagten, gerade solch abstrakte Forderungen hätten den Politikern erst ihre „Umarmungsstrategie“ ermöglicht. Trotzdem interessierten sich die meisten von ihnen für die abstrakteste aller Themengruppen, „Wirtschaft und Gesellschaft“. Doch selbst Dieter Klein, der als erklärter Marxist politische Ökonomie an der Humboldt-Universität lehrt, mußte sie enttäuschen. „Wir werden in der allernächsten Zeit nicht rauskommen aus dem Kapitalismus“, verwies auch er auf eine Politik der kleinen Schritte.

Für das Kleinklein konkreter Uni-Reformen mochten sich die Studenten noch weniger erwärmen. Detailliert erklärte der Berliner Jochen Geppert vor weitaus kleinerem Publikum einige Modelle für mehr studentische Mitsprache in den Uni-Gremien. Für eine Mitstreiterin aus Hannover war all das aber nur „juristisches Geplänkel“. Sie ziehe es vor, „einfach mal die Sitzung des Akademischen Senats zu sprengen“.

Für solche Sponti-Aktion scheinen sich die Studenten noch immer am meisten zu erwärmen. Am lebhaftesten ging es in der Obergruppe „Protestorganisation“ zu. Die Ideen reichten von einer „Majorisierung“ der FDP per Masseneintritt bis zu einer bundesweiten Vernetzung der Hochschulen per Internet. Welche Informationen sie dort zu welchem Zweck austauschen wollen, das wissen sie vielleicht am Sonntag genauer.