Wenn sie morgen geschähe

■ Wie die Treuhand bereits kurz nach Kriegsende entwickelt wurde. Dr. Friedrich Ernst und sein Masterplan für die Wiedervereinigung

1960 starb „plötzlich und unerwartet“ der Ministerialdirektor a.D. Dr. Friedrich Ernst. Wenn auch die Berliner Ökonomie weit hinter sein Wirken fällt, so ist doch die durch ihn ausgedrückte Dialektik von Scheitern, verspätetem Triumph und wieder Scheitern geradezu paradigmatisch. 1919–31 arbeitete der Jurist Friedrich Ernst im preußischen Handelsministerium. Anschließend wurde er Reichskommissar für das Bankgewerbe. 1935 ernannte ihn der Führer zum Reichskommissar für das deutsche Kreditwesen. 1939–41 war er für die Verwaltung des „feindlichen Vermögens“ verantwortlich, dazu arbeitete er die „Richtlinien“ zur Wirtschaftsführung in den „neubesetzten Ostgebieten“ aus. Diese Instruktionen – Hermann Görings berühmte „Grüne Mappe“ – waren dann Grundlage für die Tätigkeit des „Wirtschaftsstabes Ost“: das Drehbuch für die Ausplünderung der Sowjetunion. Dr. Ernst nahm daran nicht mehr aktiv teil, er wurde 1941 Teilhaber einer Hamburger Bank. 1949 holte man ihn erneut in ein öffentliches Amt. Bis 1957 half er, das Wirtschaftswunder anzukurbeln: erst als Verwaltungsratsvorsitzender der Berliner Zentralbank, seit 1951 auch noch als Leiter des Kabinettsausschusses für Wirtschaft – damit war er der Vordenker in Adenauers „Wirtschaftsnebenregierung“. 1952 wurde er überdies Vorsitzender des „Forschungsbeirates für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“. Es ging um eine detaillierte Zusammenstellung „der bei der Wiedervereinigung voraussichtlich erforderlichen Sofortmaßnahmen“. Die Arbeit gipfelte in einer „Empfehlung zur Einfügung der ,volkseigenen‘ Industriebetriebe der SBZ in die nach der Wiedervereinigung zu schaffende im Grundsatz marktwirtschaftliche Ordnung“.

Einen Monat nach dem Tod von Dr. Ernst wurde die Empfehlung abgeschlossen. Im Einzelnen wurde darin u.a. vorgeschlagen: 1. die VEB als potentiell selbständige Unternehmen zu „modifizieren“, 2. von diesen „modifizierten VEB“ eine DM- „Eröffnungsbilanz zu verlangen, und 3. mit dem Übergang eine „Obere Behörde“ (Treuhandanstalt) zu betreuen. Diese obere Behörde sollte Aufsichtsräte einsetzen und die „modifizierten VEB“ gemäß marktwirtschaftlicher Einschätzungen teilen oder mit anderen vereinen können. Mit Staatsmitteln errichtete Werke sollten von der oberen Behörde verkauft werden. Für die LPG sah die Empfehlung vor, sie nach einer Phase als „Übergangsgemeinschaften“ aufzulösen. Als Prinzip galt: Rückgabe vor Entschädigung. Dabei würde es zu Arbeitslosigkeit kommen, deswegen wurde empfohlen, gleichzeitig Vorsorge für einen reibungslosen Übergang von landwirtschaftlicher zu anderer Beschäftigung zu treffen (Massen-Umschulung und -ABM). Auch die „Altschulden“-Frage wurde vom Forschungsbeirat bündig geregelt, sowie die Währungsumstellung auf 1:1 – mit Einschränkungen.

Außerdem war man bereits 1960 davon ausgegangen: Es gibt jetzt schon in der „sowjetisch besetzten Zone bei Kali Kapazitäten, die im Falle der Wiedervereinigung eine Ausweitung nicht erfordern“, da sich „Überkapazitäten für Gesamtdeutschland ergeben würden“. Dr. Ernst hatte also bereits damals „Bischofferode“ fest im Blick: Unglaublich! Sein Nachfolger Dr. Gradl erinnerte 1965 die interessierte Öffentlichkeit noch einmal daran: Wir müssen auf die Wiedervereinigung vorbereitet sein, „wie wenn sie morgen geschähe. Hierzu im wirtschaftlichen und im sozialen Bereich beizutragen ist der Sinn des Forschungsbeirates“ – und des Wirkens von Friedrich Ernst gewesen.

Dessen praktische Wiedervereinigungs-Empfehlungen waren 1960 bereits so ausgereift, daß sie noch dreißig Jahre später als „Masterplan“ der Treuhand-Privatisierungspolitik taugten. Detlev Rohwedder wollte diesen Masterplan 1991 modifizieren – vielleicht wurde er deswegen umgebracht. Als Nachfolger griff man sich dann erneut jemanden aus einem Hamburger Bankhaus. Dem letzten DDR-Botschafter in Jugoslawien, Ralph Hartmann, gebührt das Verdienst, die Ernstsche „Urfassung“ wiederentdeckt zu haben. Vgl. dazu sein Buch „Die Liquidatoren“ (Verlag Neues Leben, Berlin 1997). Helmut Höge