Graue Stadt Von Jürgen Roth

Hannover ist eine Stadt, die hat's. Wenn du den Bahnhof an seiner Rückseite verläßt, stößt du auf städtebauliche Ensembles der allerkriminellsten Art. Du steigst 20 Treppen hinab und überquerst den Raschplatz, ein tiefergelegtes Monstrum aus Beton, Mischbeton und Waschbeton. In die folgende Unterführung wurde wohlweislich eine Polizeistation eingemauert. Steigst du aus dem Höllenloch empor, lauern linker und rechter Hand die abscheulichsten Gebäude Niedersachsens.

Du aber fährst lieber wieder weg. Doch selbst im ICE lautet das Motto dieses kalten, düsteren Tages: Arschlochalarm!

Wir saßen an einem komfortablen Vierertisch im Bordrestaurant. Draußen zogen aschgraue Hannoveraner Wohnsilos vorbei, die Stadt franste zusehends aus, schließlich verschwand sie ganz. Der griesige Himmel drückte alleingelassene Krüppelbäume platt, weite schwarzbraune Ackerflächen gammelten herum, und kein Mensch wagte es, diese Landschaft zu betreten. Das sahen wir genau, trotz Tempo 283. „Herrlich, diese Gegend, nicht?“ bemerkte ich, „jojo“, kam es zurück, und wir schwiegen wieder. Schweigen ist schön mit Kaffee und einer schönen Frau vis-á-vis.

Dann traten sie auf – drei Menschenwesen, die aus Langeweile, blanker Verblendung oder roher Niedertracht einst beschlossen hatten, sich zur Kleinfamilie zusammenzutun und der Welt den Stempel ihrer mißgünstigen Seelen aufzudrücken. Kurz hinter Göttingen standen sie plötzlich im Durchgang, die Frau links, den Balg an der Hand, der Macker rechts. Neben uns lagen zwanglos Taschen und Jacken. Zügig hoben sie zu schwerwiegenden Beschwerden an, und binnen kurzem erreichte ihre Empörung darüber, im belegten Restaurant keinen Familienbonus zu erhalten, gesellschaftlich nicht akzeptable Ausmaße. Ja, wie diese jungen Leute da, wie die da sitzen und keinen Platz machen, das sei ja unerhört: Wir stehen hier seit über zehn Minuten, und die belegen vier Plätze zu zweit, während wir zu dritt sind, unglaublich, eine Frechheit...

Es wäre alles ganz einfach. Man könnte fragen, ob man sich schon mal dazusetzen und das Kind vorübergehend reinquetschen dürfe. Dies unausstehliche Trio müllte allerdings hartnäckig die Speisewagenatmosphäre zu. Als die Dame herantrat, speiend vor Wut über unsere Ungehörigkeit, der holde Gattenwichskopp aber nach wie vor stehend die Stellung hielt, da war's fast so weit, daß meine Begleiterin und ich handgreiflich geworden wären. Man erschrickt angesichts solcher Regungen. „Sie verschwinden jetzt“, rotzte mich die nun fett-dreist Sitzende an, bis sich auch noch der Alte hinflanschte und bläkte: „Sie legen Ihren Dreckhut hier auf den Tisch, eine Sauerei ist das!“ Wir zahlten, hilflos Widerworte gebend, und standen auf. Das Pack grützte unvermindert: „Halten Sie endlich den Mund und entsorgen Sie Ihre Zeitungen, Sie sind...“ Weg. Weg. Sonst passiert was.

In sicherer Entfernung fanden wir einen Platz auf dem Fußboden. Es zog, es ratterte, wir rauchten. „Hier geht's ja weiter mit Rauchen“, pöbelte der über uns hinwegstiefelnde schleiflackgesichtige „Idiot“ (Dostojewski), „ein absoluter Raucherzug, ist ja unglaublich!“ So ist die Welt von Hannover aus beschaffen.