Marmor Stein und Eisen Brecht
: Verehrter Brecht,...

■ Eine Wortmeldung zum 100. Geburtstag

Flugs nach dem Epochebruch 89 und der Ausrufung der neuen Weltordnung schwappte mit der enormen Schaumkrone des Sieges über das plötzlich entschwundene „Reich des Bösen“ auch ein kleines Wort mit den unterirdischen Wellen über den Atlantik; ein Wort, das die Schaumkronen auswarfen als ihr Ausgespei bis an die Ufer Europas nach dem großen Sieg ohne Schlacht.

Das unterirdische Wort, sobald es hochkam, zog nach diesem dritten (kalten) Weltkrieg, der – das wissen Sie gar nicht, Brecht –, an Länge den 30jährigen Krieg übertraf und an Tiefe in diesem Jahrhundert eine verkrüppelte Menschheit dem dritten Millennium offeriert – dieses Wort, Brecht, demonstriert mit demokratischer Offenheit, daß dieser dritte Krieg als Ergebnis seinen wirtschaftlichen Sieg aus der Überflußgesellschaft zog, die jetzt allein in den Marktwirtschaftsdemokratien 30 Prozent „überflüssige“ Menschen produziert – und diese überflüssigen Menschen im großen Bogen großer Lügen nun ausspeit.

„Überflüssig“ ist also das Wort, wird das künftige Merkmal für bestimmte Menschen in großer Zahl; wird auf der Erde jetzt zur Menschenangst für „überflüssig“ befundene Menschenbrüder. Allein das Wort „Menschenbrüder“, Brecht, löst sieben Jahre nach dem Epochenbruch vorzugsweise bei Unternehmerdemokraten die Empfindung unerträglicher Nostalgie aus. – Denn „überflüssig“ ist das Wort, das jetzt in immer neuen, nicht mehr zögernden Wellen durch nichts mehr gebremst zuerst die Arbeitsplätze wegspült, bewußt absaufen läßt in das Meer dieses Wortes; das in den nachfolgenden Springfluten den Menschen ohne Arbeit die Wohnstätten unter dem Boden wegspült durch jenen reißenden, immer tiefer, immer höher schwellenden Fluß des Geldes aus diesem plötzlichen Sieg ohne Schlacht mit plötzlichem Billiglohn (auch für die EIGENEN, auch für das billig gewordene Volk nach dem Sieg), kurz, für die ganze aus freien Wahlen hervorgegangene LEIB- EIGENE-WELT des Kapitals.

Und nichts mehr auf dieser Erde für jene, aus der wärmenden Leibeigenschaft längst schon Freigesetzten, längst entlassenen Überflüssigen; nichts für das nicht mehr Anzusehende auf den Straßen, das die Innenstädte verunzierende Ausgespei aus der Schaumkrone des Sieges; keinen Pfennig, sagen die „Arbeitsämter ohne Arbeit“, wenn für den Bettellohn ES nicht freiwillig zur Zwangsarbeit kommt, wenn ES nicht freiwillig wie Gefangene, die in Gefangenschaft Geratenen in einem Krieg, die Zwangsarbeit für die Erhaltung des „Standrechts Deutschlands“ als seine „Überflüssigen“ jetzt verteidigt.

Für eine kleine Weile, verehrter Brecht, läuft die Geschichte jetzt so. Für einen Wimpernschlag lang springt sie noch atemlos über die wachsenden Steine in diesem Fluß. Bis – wie in den alten Mären – dieser goldstrahlende Fluß in der Sand-Bank, seinen vielen Fillialen an den Bächen, den „weinenden Bächen Babylons“ endet; bis er als Rinnsal in der kurzen Geschichte seiner 200 Jahre verrinnt. Verrinnt als das Ungeheuer der Geschichte, zuletzt mit diesem schnellen, eiligen Wort zwischen den Zähnen aus dem Zeughaus des Mörderkapitalismus mit dem langsamen Todesurteil auf den Lippen für zwei Drittel seiner im Apostroph geendeten Weltgemeinschaft.

Dieses, der Hölle heute vorgestellte Wort, lieber Brecht, wird, wie Sie selbstredend wissen, diesen gewaltigen Todesfluß selbst ereilen, wird ihn und sein entmenschtes Wort, seine außer Atem geratene letzte Weisheit für eine Endlösung der neuen Produktionsmittel, die diesen Überflüssigen (ihre Endlösung) jetzt produziert, seiner historischen Bestimmung zuführen; wird sie auf einen Nenner hinführen für ein Leben der Menschen mit Kuchen am Sonntag für alle; und dieses schon zitternde Glashaus über der Welt wird seinen klirrenden Zusammenbruch (mit den ersten Scheibenbrüchen in Süd-Korea) auf einen Begriff, auf ein Wort bringen müssen und seinen globalen Scherbenhaufen im dritten Millennium auf vier kleine Silben: überflüssig!

Ich grüße Sie herzlich, Ihre K. Käthe Reichel (Schauspielerin)

Vorabdruck aus: „An bb im Vorhof der Hölle“ (in Arbeit)

wird fortgesetzt