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: Des Müllers Lust

■ Es kommt vor allem darauf an, in Bewegung zu sein: Unterwegssein und die Kunst des Reisens

Er reise nicht, notiert Robert Louis Stevenson, „um irgendein Ziel anzulaufen, sondern um zu laufen. Ich reise des Reisens wegen. Worauf es ankommt, ist in Bewegung zu sein, die Nöte und Haken unserer Existenz unmittelbar zu spüren, aus diesem Pfühl der Zivilisation auszusteigen und zu finden, daß der Boden unter den Füßen aus Granit besteht und mit schneidenden Kieseln bestreut ist.“ In diesem Zitat sind gleich mehrere Motive versammelt, die das, was einmal „des Müllers Lust“ war und heute eher als Sport betrieben wird, charakterisiert: das Wandern auf Wegen und Straßen. Das sehr schöne literarische Lesebuch „Die Kunst des Wanderns“ versammelt zahlreiche Texte zum Thema und paßt in jeden Rucksack.

Der Wanderer spürt einsame Pfade, unbedeutende Wege, aber auch das Pflaster berühmter Straßen unter seinen Füßen. Unter dem Titel „Große historische Straßen“ gibt es, von der Via Appia bis zur Avus, eine kulturhistorische Spurensuche, illustriert mit zahlreichen Fotografien. Der Autor Dietmar Grieser skizziert ein Bild Europas der realen Straßen, mit alten Verkehrswegen, Handels- und Handwerksstraßen, Heerstraßen, Prunkstraßen und Stadtstraßen, aber auch jene Straßen aus der Märchen-, Sagen- und Legendenwelt, über die in Wirklichkeit nie jemand wanderte, die aber unversehrbar bleiben wie die literarischen Straßen, zum Beispiel Wilhelm Raabes Sperlingsgasse oder die legendären Filmstraßen.

In Alban Nikolai Herbsts Buch „New York in Catania“ wird über reale, aber vor allem auch über phantasmagorische Straßen gewandert und gereist. Diese phantastische Reise durch Sizilien vermischt ziemlich bedenkenlos und eben deshalb überzeugend Fiktion und Bericht. Man fühlt sich an E.T.A. Hoffmann erinnert, wenn hier die Straßen, Wege und Pfade zu einem Labyrinth werden, in dem irgendwo zwischen Mythen und Mafia der Geist und die Atmosphäre Siziliens lebendig werden. Daß man auf Straßen auch Fahrradfahren kann, hat sich vermutlich endgültig herumgesprochen, seit Jan Ullrich die Tour de France gewonnen hat. Die englische Autorin Bettina Selby ist allein von Ägypten bis Zaire und Kenia gestrampelt und hat in ihrem sehr lesenswerten Buch „Ah Agala!“ über ihre Erlebnisse berichtet. „Ein herrlicher Wind blies mich durch die Felder Oberägyptens voran, als ob ich durchs Gewoge von hohem, goldenem Zuckerrohr segeln würde. So mühelos und angenehm war das Fahrradfahren bisher noch nie gewesen, und je schneller ich fuhr, desto mehr wirbelte die Luft um mich herum auf, blies mir das Haar aus der Stirn und fächelte mir willkommene Kühle ins Gesicht.“ Am Schluß des Buches beantwortet sich die Autorin die Frage: Hat es sich gelohnt? Und sie beantwortet sie so, wie Stevenson vor 120 Jahren geantwortet hätte: „Reisen geschieht um des Reisens willen.“

Ob Peter Handke nur um des Reisens willen reist, nur um des Wanderns willen seine langen Wanderungen antritt, darf man ja mit Fug bezweifeln, seit er ziemlich schrill nach „Gerechtigkeit für Serbien“ gerufen hat. Seine kleine Textsammlung „Noch einmal für Thukydides“, die als Taschenbuch in erweiterter Form vorliegt, ist stiller, und es ist, wie so oft bei diesem Autor, ein Buch über Straßen, Wege und Pfade, die in jene weltvergessenen Flecken führen, in denen Handke seine weltberühmten „wahren Empfindungen“ überkommen. Zugleich aber sind solche Wege immer bereits ihr eigenes Ziel. Klaus Modick

Dietmar Grieser: „Große historische Straßen“. Inseltaschenbuch

Alban Nikolai Herbst: „New York in Catania“. rororo

Alexander Knecht/Günter Stolzenberger (Hg.): „Die Kunst des Wanderns“. dtv

Peter Handke: „Noch einmal für Thukydides“. dtv

Bettina Selby: „Ah Agala!“. Serie Piper