Einstein heißt hier Moebius

■ „Moebius“: ein vielgerühmter argentinischer Film erzählt von den irdischen Gefahren höherer Mathematik

Erfahrungswert: Intellektuelle, verschrobene Filme mit vielen bizarren Kameraeinstellungen, tristen Räumen und Gesichtern, die in Großaufnahme gleich die komplette Leinwand imperialistisch in Besitz nehmen, sind prinzipiell deutsch. „Moebius“aber wurde lediglich nach einer Erzählung von einem gewissen A.J. Deutsch gedreht. Entstanden dagegen ist er in Argentinien. Dafür wurde er aber von einer Klasse der Universidad del Cine in Buenos Aires fabriziert. Aha, Filmstudenten also. Das zählt fast genauso viel wie eine deutsche Herkunft. Also ist „Moebius“ein intellektueller, verschrobener Film mit ... - und ein Vorurteil ist widerlegt: Nicht nur Deutsche leiden gelegentlich im Zustand höherer Vergeistigung. Wie ermutigend.

Der Film erntete angeblich auf der letzten Berlinale die Sympathien sämtlicher Cineasten. Vom deutschen Feuilleton wurde er rauf- und runtergelobt. Zu Recht, aber nur ein bißchen.

Die Grundidee ist grandios. Die Einsteinsche Relativitätstheorie, gemeinstes Folterinstrument aller Physiklehrer, springt heraus aus trockenen Lehrbüchern und nistet sich in der wirklichen Welt ein; noch dazu in der frostig-kargen Unterwelt der U-Bahnen. Einstein heißt in diesem Falle August Ferdinand Moebius, ist also leider nicht der Comicstar Moebius, sondern der Mathematiker des 19. Jahrhunderts, der die Moebiusschleife erfunden hat. Die hat zwar nichts zu tun mit den Zeitschleifen in Stanislav Lem-Erzählungen, erfüllt aber im Film eine ähnliche Funktion.

U-Bahn Nr. 86 hüpft aus unserem Raum-Zeitkontinuum und hängt nun fest in einem 4. März. Das Murmeltier grüßt trotzdem nicht täglich. Dem Stocken der Zeit wird kein sittlicher Mehrwert abgerungen. Das Rattern des Geisterzugs ist zwar noch in dieser-unserer Welt zu hören, auch bringt er ihre Elektronik gehörig durcheinander, zu sehen ist von ihm aber nichts mehr.

Diese mysteriöse Abwesenheit ist der Anlaß für die Anwesenheit seltsamer Männer und ihrer noch seltsameren Ideen: Die Bosse der Bahngesellschaft streiten sich mit dem Mathematiker Pratt über Wirklichkeit, Wahrscheinlichkeit, Unendlichkeit. Diese großen Themen mischen sich apart mit den mimischen Extravaganzen extrovertierter Latinogesichter: gerunzelte Stirnen, starre, düstere Blicke, Machogehabe. Auch der Trenchcoat Columbos ist da. Was allerdings vollkommen fehlt, ist die schwerelose Lakonie Peter Falks. Weil die theoretischen Erwägungen im Flach-Spekulativen hängenbleiben und partout keine Relevanz für das wirkliche Leben erkennen lassen, will sich der gefühlig-menschelnde Effekt von Großaufnahmen hier einfach nicht einstellen. Das ist schade. Denn der Film will viel. Es geht ihm nicht nur um eine Kritik des gewalttätig-kausalen Denkens, sondern auch um die Kausalitäten politischer Gewalt: das Verschwindenlassen aller Gegner einer Militärdiktatur.

Statt ihr Thema ernst zunehmen, basteln die Studis aber lieber an Kameraeinstellungen herum. Besonders beliebt unter ihnen ist offensichtlich ein dehierarchisierender Blick, der irgendeinen Schotter – eine Schreibmaschine oder eine Parkbank – groß in den Vordergrund wuchtet und die Figuren aus dem Hintergrund antraben läßt. Dann spielt die Kamera ein wenig Einstein und springt von einer Schärfeebene in eine andere. Solche Tricks kommen noch ein wenig lieblos und mechanisch daher. Wegen des außergewöhnlichen Konzepts ist „Moebius“aber ein durchaus sehenswerter Film. Vor allem, wenn man ein Auge hat für die kleinen Besonderheiten einer fremden Kultur, dem plumpen, vor-telekomschen Telefon, dem labyrinthisch-verstaubten Stadtarchiv, freiliegenden Wasserrohren und einer allerliebsten Fliesenbordüre.

Barbara Kern

Kino 46, Do, 20.30 h, Fr + Sa 22.30 h, Mo + Di 18.30 h