Suche nach Zoten statt Klassenkampf

■ Norbert Kentrup und Th. Metscher schwärmten in der Villa Ichon über Shakespeare

Genüßlich kaut Thomas Metscher die Doppelvokale. Sanfte Winde läßt er zwischen Gaumen und Zunge entgleiten. So viele ou's, ea's, öa's und vor allem die th's machen Spaß. Er liest Shakespeare. Auf englisch. Es ist Nacht. Und Richard III. hat Angst, überrollt zu werden von jener Gewaltmaschinerie, die er selbst anzettelte. Ein Mörder begreift, daß er auf die Gegenseiten wechseln kann – unfreiwillig natürlich, zum Opfer verkommen. Richtige Angst kann so erhaben sein, vor allem mit den vielen th's und den schönen morbiden Verwesungsmetaphern.

Norbert Kentrup, Gründervater der Shakespeare-Company, krümmt sich vor Lachen und formt mit seinem Mund die wildesten geometrischen Figuren: Ellipsen, Trapeze, Polyeder. Diesmal sind wir hineingeraten in „Was ihr wollt.“Keine Frage, die beiden Freunde himmeln ihren William an. Weil sie das an diesem Abend für die MASCH, das ist die „Marxistische Abendschule“, tun, schlagen sie eine Brücke zum Marxismus. Und das geht bei Shakespeare ganz leicht, „viel einfacher als zum Beispiel bei Racine, Schiller oder Corneille.“

Marxistische Interpretation kann bedeuten, ein Stück Literatur als Überbau zu interpretieren: staatstragend und sämtliche Widersprüche der ökonomischen Ordnung überspielend. Marxistische Interpretation kann aber natürlich auch heißen, ein Stück Literatur als (kritische oder unbewußte) Offenlegung dieser Widersprüche zu deuten. Bei Literaturwissenschaftler Metschers flockigen ou's und th's und Kentrups zuckenden Mundtrapezen kann es keine Frage sein, wo sie den Schwerpunkt setzen. Nach ein paar Zwars und Abers („Heinrich V. ist das royalistischste Jubelstück, das es überhaupt gibt“) gehen die beiden auf die Suche nach herrschaftskritischen Momenten. Ihre Strategie ist unterschiedlich.

Metscher interessiert sich eher für jene Mächtigen, die die Lust an ihrer Stellung verlieren. „Was ist Ehre? – Luft.“An das Gute glaubt Shakespeare bei diesen Herren aber nicht. Die englische Geschichte mit ihren Intrigen, Rosenkriegen, Vergiften und Erdolchen von Familienmitgliedern hat die humanistischen Flausen eines Erasmus von Rotterdam zu gründlich ausgetrieben. Erst Todesangst und Verarmung zeugt Einsicht. Lear begreift, daß es Menschen geben könnte, die schlecht gekleidet sind, frieren, leiden: „Ich habe mich zu wenig darum gekümmert.“Das fällt ihm erst ein, als er selber im Regen steht, – aber immerhin.

Natürlich ist es alles andere als marxistisch, auf die Einsicht derer da oben zu warten, aber schließlich ist Shakespeares Message für die Masse Volk gedacht. Und an diesem Punkt wird Kentrup warm ums Herz. „Perspektive von unten“und „plebeischer Blick“sind Lieblingsvokabeln. Ihn interessieren Dienstboten, Diebe, die die Herrscher mutig verlachen.

Allen voran sein Wunsch-Alter-ego Falstaff. Für manchen mag ja die Parole „Fressen, Saufen, Ficken“– vielleicht zeitgemäß ergänzt durch das dritte F: Fernsehen – die Lebensmaxime des Kleinbürgertums sein. Für Kentrup aber ist es die Waffe schlechthin gegen aufplusternde Herrscherallüren. Er schwärmt von Falstaffs Anarchismus – „die schönste Figur der Weltliteratur“– und mächtig faltet sich das Doppelkinn. Die stämmige Konstitution wird zum leibhaftigen Argument.

Deshalb bemüht sich die Shakespeare Company „all die Zoten wiederzufinden“, die eine klassizistische Übersetzung ausgebügelt hat. Ob das fröhliche Outen eines Perlhuhns als unverhohlene Metapher für eine Nutte die diversen Schräglagen unserer heutigen Gesellschaft in irgendeiner Weise erhellt, wurde in der MASCH nicht besprochen. Aber dafür freut man sich umso mehr über die schönen Momente im Leben eines Theatermanns, wo man Politiker geärgert, Kinder begeistert, Ehepaare auseinandergerissen (allerdings nur während der Vorstellung von „Der Widerspenstigen Zähmung“) hat. MASCH macht Spaß. Ob sie den Begriff Marxismus ernst und streng genug faßt, ist ein weites Feld.

Barbara Kern