Mutter am Glockenstrang

■ Mysteriöse Komödie: „Das letzte Siegel“ von Stefan Dähnert

„Die Anna hat gewußt“, schnieft Mutter Hammes am Grabe ihrer Tochter. Der junge feiste Pastor Josef geht währenddessen versonnen und skeptisch seinem Beerdigungsritus nach. Jaja, nun soll die so jung gestorbene Anna, die alle immer nur durcheinandergebracht hat, alles gewußt haben. Und jetzt, wo sie tot ist, beginnt sie ihr Heimatstädtchen in der Eifel erst recht auf den Kopf zu stellen. Und zwar aus dem Jenseits, das in den Köpfen der einfältigen Gläubigen spukt.

Sogar dem Geistlichen hatte sie sich genähert, hatte eines Nachts im Mondenschein zarte Liedchen mit ihm gemeinsam gesummt. Als eine Art heilige Pipi Langstrumpf bleibt sie in Erinnerung, und in solcher Versenkung schnellt die Mutter enthusiasmiert am Glockenstrang auf und nieder, während sie inniglich die seherischen Fähigkeiten ihres toten Kindes beschwört.

Nach der Einführung in die idyllisch-wahnsinnige Welt der Kleinstadt schickt Regisseur Stefan Dähnert in seinem Film Das letzte Siegel den zweifelnden Pastor Josef Wesel hinaus ins große Hamburg, um den Spuren der heiligen Anna, einem rothaarigen Wirbelwind voller sozialer Ideen, zu folgen und Indizien für eine Seligsprechung zu sammeln. Und was entdeckt der Pastor in der Großstadt? Daß die Anna mit dem guten Herzen sich gleich viermal verheiratet hat, um Menschen vor der Abschiebung in ihre todbringende Heimat zu bewahren. Daß sie mit den Ausgestoßenen zusammenlebte, besetzte Häuser verteidigte, in die Ausländerbehörde eindrang, um Aktenschränke mit Beton zu versiegeln. Solche Ausländerfreundlichkeit steht in den Augen der klerikalen Obrigkeit natürlich ihrer Erhöhung zur Anbetungswürdigen entgegen.

In der Heimat hat der große Reibach mit Anna schon begonnen. Denn wie war das noch mit diesen Prophezeiungen von Erdbeben und Strafen für die Ungerechten, von heilenden Wunderquellen und wundersamen Zusammenführungen einsamer Herzen? Und läßt sich nicht mit Leitungswasser und alten Klamotten („Reliquien“) ein feines Geschäft machen?

Die Hektik im Städtchen ist groß, fliegende Händler wittern ihr Geschäft am Rande einer möglichen Seligsprechung, Heilsuchende aus der ganzen Eifel sind herbeigeeilt, einen Hauch von Segen zu erhaschen. Wenngleich Annas Prophezeiungen fast wörtlich eintreten und beispielsweise die beiden unbeliebtesten Rocker des Dorfes auf offener Straße mit ihren Böcken aufeinanderfahren, daß sie nicht mehr schielen können, so schwindet der Boom doch so schnell wieder, wie er gekommen ist.

Mit einem hervorragenden Schauspielerteam – so spielen auch Josef Ostendorf, Wolfgang Pregler und Inka Friedrich vom Ensemble des Schauspielhauses mit – hat Stefan Dähnert seine mysteriöse Komödie mit Leichtigkeit inszeniert. Der trockene Humor der Dialoge – wie der des dicken Pastors mit einem Großstadt-Girl „Ich bin Priester“ – „Da war'n schon ganz andere hier“ – gelingt mühelos. Das letzte Siegel ist übrigens eine der letzten Produktionen, die noch mit Mitteln des Hamburger Filmbüros verwirklicht wurden.

Julia Kossmann

Metropolis, 24.8., 21.15 Uhr, 27./29./31.8., 17 Uhr, 28.8., 19 Uhr