Liebe der Matrosen

■ Während Dieter Wedels "König von St. Pauli" einen einsamen Kampf gegen die Werbepausen führt, zeigen Herbert Dombrowskis St.-Pauli-Fotos Mythos und Wirklichkeit der "geilen Meile"

Willi Bartels gehört ein Drittel der berühmtesten Straße Hamburgs, und die zweitberühmteste, die Große Freiheit, ist fast allein in seiner Hand. Nicht zuletzt deshalb heißt der Immobilienbesitzer im Kiez-Volksmund „Der König von St. Pauli“. Der 83jährige mag diese Bezeichnung nicht, zumal er in letzter Zeit sehr oft darauf angesprochen worden ist. Schließlich ist gerade ein anderer „König von St. Pauli“ auf der Bildfläche aufgetaucht: Würfel-Rudi, die Hauptfigur des Sat.1-Sechsteilers von Dieter Wedel.

Auf St. Pauli sorgt Wedels exzessiv promotetes Werk bestenfalls für Erheiterung. Bartels, der vermeintlich wahre König, urteilte gleich nach der Premiere in einem Hamburger Kino: „Das ist ein Märchenfilm.“ Und Lilo Wanders, Kieztheaterbesitzerin und „Wahre Liebe“-Moderatorin, empfindet das Fernsehstück als „Lachnummer“. „Ganz Hamburg ist ein Dorf. Die Dorfstraße heißt Reeperbahn. Sie umfaßt ungefähr fünf Straßenecken... Die Anzahl möglicher Kamerafahrten ist begrenzt.“ So skizziert Ulf Erdmann Ziegler in der taz-Serie „Stadt im Film“ ein Bild, das sich republikweit eingeprägt hat. Diese Beschreibung läßt sich mittlerweile getrost auf die St.- Pauli-Bilder übertragen, die TV- und Print-Journalisten vermitteln. Die Anzahl ihrer Kamerafahrten, ihrer Blickwinkel ist begrenzt: Der 33.000-Einwohner-Stadtteil ist im besten Fall eine verruchte Puppenstube, im schlimmsten Fall Gangsters Paradise.

Prominente wie Willi Bartels und Lilo Wanders sehen diese quasi virtuellen Bilder aus ihrer unmittelbaren Umgebung noch relativ gelassen. Als aber zum Beispiel im Dezember Herbert Dombrowskis Fotoband „Das Herz von St. Pauli“ vorgestellt wurde, für den Bartels eine Einleitung geliefert hatte, war die Stimmung unter den anwesenden St.-Paulianern sehr gereizt. Daran war keineswegs Dombrowskis Buch schuld, sondern einzig die anwesende Spiegel-Reporterin Ariane Barth.

Obwohl sie als Szenekennerin gilt, hatte sie kurz zuvor eine klischeeüberladene Titelgeschichte veröffentlicht, garniert mit dem für die Hamburger Illustrierte typischen Rassismus. So gerieten an diesem Vormittag deftige frauenfeindliche Schimpfworte in Umlauf, die bei Buchvorstellung normalerweise nicht an der Tagesordnung sind.

Herbert Dombrowski, knapp so alt wie Willi Bartels, versammelt in „Das Herz von St. Pauli“ Fotos, die 1956 entstanden sind. Er sorgt damit für ein wohltuendes Kontrastprogramm zu der von den Barths und Wedels forcierten Kiezkonjunktur. Dombrowskis Bilder sind meistens freundliche, allemal würdevolle Dialoge mit Menschen, die auf St. Pauli leben, arbeiten oder abhängen; sie zeigen Alltag und Normalität. Die Arbeitswelt auf St. Pauli war in den 50er Jahren keineswegs nur Liebesarbeit. So weist Dombrowski indirekt auf das maßgebliche Manko aktueller Kiezberichterstattung hin. Heute würde man in überregionalen Reportagen keine derart Mythos-inkompatiblen Bilder finden aus Twenty-Something-Kneipen oder aus dem House-Club von nebenan. Erst recht nicht von Berufstätigen, die nicht der Prostitution nachgehen.

Den Wandel auf St. Pauli seit 1956 deutet das Titelbild an: Es zeigt einen hageren Matrosen, dem eine resolute Frau, eine typische Matrosenbraut, gerade den Arm zum Einhaken anbietet. Er hat aber offensichtich kein Interesse daran, er wirkt ein bißchen verloren, wie Menschen oft wirken, wenn sie immer nur ein paar Tage in einer Stadt sind. Diese Art Durchreisender hat den Stadtteil maßgeblich geprägt, seit im Juni 1816 das erste Dampfschiff an den heutigen St.-Pauli-Landungsbrücken festmachte. Aufgrund des zunehmenden Andrangs der vergnügungssüchtigen Seeleute entstanden immer mehr Kneipen und später dann auch andere Vergnügungs-Etablissements. Heute trifft man auf St. Pauli keine Matrosen mehr – spätestens seitdem sich die Container-Schiffahrt durchgesetzt hat und sie sich nicht mehr als ein paar Stunden in einem Hafen aufhalten müssen.

Gewiß fühlen sich durch Dombrowskis Bilder auch Nostalgiker und Kulturpessimisten angezogen. Aber für die guten alten Zeiten stehen die Fotos keineswegs. Wenn Dombrowski nur so gearbeitet hätte, wie in diesem Buch präsentiert, hätte er nicht überleben können. Richtig Karriere machte er ab Ende der 50er Jahre, nachdem er für eine Benzinfirma Tankwarte porträtiert hatte. Ab dieser Zeit hat ihn die Werbefotografie „vereinnahmt“, wie Dombrowski heute sagt.

Eine wichtige Botschaft vermittelt er mit „Das Herz von St. Pauli“ nicht zuletzt Fotografen, die heute ähnlich arbeiten wie er 1956: Wenn ihr Glück habt, Leute, könnt ihr in 40 Jahren ein Buch machen. René Martens

Herbert Drombrowski: „Das Herz von St. Pauli. Fotografien 1956“, Hamburg 1998, 110 Seiten, Dölling und Galitz Verlag, 29,80 DM