Erbakans Wohlfahrtspartei verboten

■ Türkische Justiz verbietet die islamistische Partei des früheren Ministerpräsidenten Erbakan und ermöglicht Anklage gegen Çiller

Istanbul (taz) – Die türkische Justiz ist gestern gleich gegen zwei Politiker vorgegangen. Das Verfassungsgericht verbot die islamistische Wohlfahrtspartei unter Vorsitz von Necmettin Erbakan, der noch vor acht Monaten Ministerpräsident der Türkei war und die stärkste Fraktion im türkischen Parlament anführt. Nach dem Urteil wird ein politisches Betätigungsverbot für Erbakan wirksam. Der oberste türkische Kassationshof bestätigte zugleich das Strafurteil gegen den Betrüger Selçuk Parsadan, der von Ex-Ministerpräsidentin Tansu Çiller Gelder aus einem staatlichen Geheimfonds erhalten hatte.

Mit der Bestätigung des Urteils ist der Weg für eine Anklage gegen Tansu Çiller wegen Amtsmißbrauchs vor dem Verfassungsgericht geebnet. Beiden Spitzenpolitikern, die mit der konservativ-islamistischen Koalitionsregierung vergangenes Jahr die Geschicke des Landes bestimmten, droht damit das politische Ende.

Das Verbot der Wohlfahrtspartei wurde mit großer Mehrheit gefällt. Neun der elf Verfassungsrichter stimmten für das Verbot. „Ohne Zweifel gibt es kein demokratisches Regime ohne politische Parteien“, sagte Verfassungsgerichtspräsident Ahmet Necdet Sezer bei der Urteilsverkündung. Doch Grenzen seien gezogen. Die Wohlfahrtspartei habe verfassungswidrig gegen das Prinzip des Laizismus verstoßen. Das Urteil fiel noch härter aus als erwartet. Das Abgeordnetenmandat des Vorsitzenden Erbakan und fünf weiterer Parteifreunde verfällt, nachdem das Urteil im Gesetzblatt veröffentlicht wird.

Das Verfassungsgericht folgte im Urteil den Auffassungen des Gutachters, der festgestellt hatte, daß die Wohlfahrtspartei „zum Zentrum fundamentalistischer Aktivitäten mit dem Ziel des Sturzes der verfassungsmäßigen Grundordnung“ geworden sei. In dem Verbotsantrag gegen die Partei waren Verstöße gegen das von der Verfassung vorgeschriebene Prinzip des Laizismus, der Trennung von Staat und Religion, festgehalten worden. Auch mit Amtshandlungen Erbakans als Ministerpräsident – so hatte er Sektenführer zu einem Abendessen empfangen – wurde der Verbotsantrag begründet. Die Mandate der übrigen Abgeordneten, die der Wohlfahrtspartei angehörten, bleiben erhalten. Allerdings können bei den Abgeordneten, deren Mandate für nichtig erklärt wurden – Erbakan und Ex-Justizminister Sevket Kazan gehören dazu –, Strafprozesse eingeleitet werden.

Für Erbakan, der seit über 30 Jahren politisch aktiv ist, sind Parteienverbote nichts Neues. Bereits zwei Vorgängerorganisationen der Wohlfahrtspartei waren in Zeiten der Militärherrschaft verboten worden. Immer wieder gelang es Erbakan, die islamistische Bewegung im Rahmen einer neuen Partei zu formieren.

Auch das gestrige Verbot traf Erbakan nicht unvorbereitet. Bereits im Dezember ließ er eine Ersatzpartei – die Partei der Tugend – gründen, die das Vakuum auffüllen soll. Schon im Vorfeld des Verbotes spekulierte Erbakan darauf, mehrere Parteien mit mehreren Fraktionen im Parlament gründen zu lassen: Diese könnten die parlamentarische Arbeit behindern, um baldige Neuwahlen zu erzwingen. Im Wahlbündnis könnten dann alle Parteien unter der stillen Regie Erbakans in den Wahlkampf ziehen. Erbakans Juristen haben auch einen Trick entdeckt, damit der mit einem politischen Betätigungsverbot belegte Politiker wieder ins Parlament ziehen kann. Er darf zwar keiner politischen Partei angehören, doch die Möglichkeit einer Kandidatur als Unabhängiger besteht trotzdem.

Bei den Wahlen im Dezember 1995 erhielt Erbakans Wohlfahrtspartei 21 Prozent der Stimmen. Eigenen Angaben zufolge hatte seine Partei rund vier Millionen Mitglieder. Doch trotz der großen Wahrscheinlichkeit, daß Erbakan die Bewegung als politische Partei reorganisiert, wird das Urteil der islamistischen Bewegung einen schweren Schlag versetzen. Letztendlich war es die Konfrontation Erbakans mit dem mächtigen Militär im vergangenen Jahr, die das Klima für das Verbot schuf. Doch eine völlige Illegalisierung der Bewegung ist ausgeschlossen und wird auch wohl von den Betreibern des Verbots gar nicht erwünscht. Das herrschende Regime hofft darauf, daß Erbakans Bewegung wieder parlamentarisch Fuß faßt, doch sich dabei an striktere Spielregeln hält.

Die Funktionäre der islamistischen Wohlfahrtspartei hatten bereits fest mit einem Verbot gerechnet, nachdem mit einer einstweiligen Verfügung die Gelder der Partei eingefroren worden waren. Seit 1960 wurden in der Türkei mehr als 40 politische Parteien verboten. Die Mehrzahl der verbotenen Parteien wurden kommunistischer, prokurdischer oder proislamistischer Umtriebe beschuldigt. Erst 1990 wurde das Verbot kommunistischer Aktivitäten aufgehoben. Ömer Erzeren