Tanz für Ausgehungerte

■ Die gepflegte Tanztradition in Hemelingen wird wiederbelebt: Der 69jährige Horst Meyer erinnert sich anläßlich dieses Ereignisses an die tanzfreudige Nachkriegszeit

Endlich ist der Krieg vorbei. Man blickt sich um und stellt fest: Die Stadt ist futsch. Man blickt zurück und stellt fest: Die Jugend ist futsch. Und dann ist man vor allem eins: „ausgehungert“. Sagt Horst Meyer, am Anfang des Krieges elf Jahre alt, am Ende achtzehn. „Und für junge Leute gab es überhaupt nichts.“Mit einer Ausnahme, und die rappelte sich nach 1945 schneller wieder auf als die meisten anderen Einrichtungen des öffentlichen Lebens: Tanz.

Wer am Wochenende konnte und 1,50 Mark übrig hatte, der zog los, in einen der zahlreichen Tanzpaläste, die überall in Bremen hergerichtet wurden. Tanz war im Parkhotel, im Cafe Hillmann, am Osterdeich hatte man gleich zwischen drei Tanzlokalen die Auswahl. Im „Bürgerhof“am Sebaldsbrücker Schloßpark heizte ein Musiker namens James Last den Ausgehungerten ein. Einen hervorragenden Ruf hatte in Hemelingen der „Ballsaal Tivoli“vom ollen Lüers. Und just das alte Tivoli will ab sofort wieder Tanzbegeisterte anlocken. Sonntag geht's los, von 20 bis 24 Uhr, und mit dabei ist Horst Meyer, mittlerweile 69.

„Es gab ja nur Familienfeste und Tanz.“Um Mädchen kennenzulernen. Schlips vom Alten geborgt, den braunen, auf Bezugsschein erstandenen Einheitsanzug übergestreift, eine Flasche Schnaps zu Tarnzwecken in eine Bierflasche umgefüllte –los ging's, in die Hannoversche Straße (vom angrenzenden „Aladin“bekannt). Der Eintrittspreis entsprach einem Stundenlohn. Und dann ging's rund: Walzer, Foxtrott, Slow Fox, Tango.

Mit Glück war die Kapelle von der Amimusik angesteckt und unterhielt mit Tönen, die man viele Jahre in Deutschland nicht gehört hatte: Jazz. Ach, und der „Boller Galopp“: eine Art Polonaise, wie sie womöglich im Weserdorf Bollen getanzt wurde. „Erst waren wir sechs Jungs. Später waren wir sechs Pärchen.“Sagt Herr Meyer, und an seiner Seite sitzt die Frau, die er damals schon zum Likör an die Theke lud. Und dann nach Hause brachte. Und dann heiratete.

Horst Meyer war zu der Zeit Handelsschüler sowie Kassenwart der Tischtennisabteilung der Sportvereinigung Hemelingen. Meist wurden die Tanzveranstaltungen von Vereinen organisiert, um etwas Bares in die Kasse zu spülen. Da blieben schon mal über 100 Mark übrig – für Fahrgeld oder Tischtennisbälle. So ein Tanzpalast war dann unbestritten der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, ja erst er erlaubte es, wieder davon zu sprechen. Indes waren die Feinziele der einzelnen Besucher durchaus prosaisch: Wenn sie kamen, hatten sie Sex im Kopf. Wenn sie gingen, Alkohol im Blut.

„Selten sind wir nachher auf dem Kantstein geradeaus gegangen,“sagt Herr Meyer. Bier (“Hemelinger“, versteht sich), eingeschmuggelter Schnaps und weißer, süßer (und billiger) Bordeaux – darum drehte es sich. Klar gab es mal Stunk. Doch der alte Lüers paßte auf und setzte Radaubrüder an die Luft. „Der hat sein Niveau gehalten.“Ohne Schlips kein Einlaß.

Wenn am Sonntag abend Erika Schermeier, eine Bremer Tanzschulchefin, versucht, den Tanz im Tivoli wieder aufleben zu lassen, werden einige von damals dabeisein. Natürlich Horst Meyer mit Frau. Und Tochter. Letztere wird mit einem dunkelroten Samtkleid auffallen. Das hat Mama sich einst in Lüers Tivoli gekauft, auf einer der ersten Modeschauen, die hier stattfanden. Bestimmt wird die Tochter genauso hinreißend aussehen in dem roten Fummel wie damals Mama.

Was es allerdings heute nicht mehr gibt, sind Ausgehungerte.

BuS

Tivoli, Hannoversche Straße 9 in Hemelingen. Von jetzt an jeden dritten Sonntag im Monat, 20 – 24 Uhr Standard, Latein, Tango. Eintritt 10 Mark.