Zum Thema Schulden: Vogel-Strauß-Politik
■ Jeder sechzehnte Bremer ist verschuldet Mittelstand jetzt auch in Gefahrenzone
Bei jedem Klingeln zusammenzucken, dann vorsichtig und ohne Licht zu machen zur Tür schleichen und durch den Spion linsen. So oder ähnlich fühlt sich, wer jeden Tag mit der Angst aufwacht, daß gleich der Gerichtsvollzieher kommt.
Achtzehn- bis zwanzigtausend Haushalte sind allein in Bremen verschuldet, mehr als jeder sechzehnte. Bundesweit ist es nur jeder zwanzigste. „Das liegt an der hohen Arbeitslosigkeit hier“, erklärt Berndt Peters, Leiter des Ortsamtes West. Vor allem in seinen Stadtteilen Gröpelingen, Walle und Findorff sei die Quote in den letzten paar Jahren extrem gestiegen – sogar der Mittelstand ist bereits in die Gefahrenzone gerutscht.
Eine soeben eröffnete Schuldenberatungsstelle in der Waller Heerstraße, die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband bewirtschaftet wird, soll dem Rechnung tragen und nun Anlaufstelle vor Ort sein. Damit sind jetzt sechs solcher Büros über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Ein Förderverein Schuldenberatung sorgt für die gemeinsame Weiterbildung, juristischen Beistand und zusätzliche Logistik. Für alles zusammen stellt das Sozialressort jährlich 375.000 Mark bereit.
Während des inoffiziellen Vorlaufs seit November hat Büroleiterin Regina Fitz bereits durchschnittlich acht Fälle die Woche bearbeitet – und einen sogar zu Ende gebracht. Eine Ausnahme: In in der Regel ist Schuldentilgung eine langfristige Angelegenheit. „Sich zu verschulden, geht wesentlich schneller.“Oft passiere das gar nicht, weil jemand über seine Verhältnisse lebt, sondern weil sich diese Verhältnisse plötzlich ändern – man krank wird oder berufsunfähig zum Beispiel. Oder Ehemänner hinterlassen der Frau, die womöglich eine Bürgschaft unterschrieben hat, einen Schuldenberg. Es gibt aber auch die anderen, die im Versandhandel bestellen oder per Handy telefonieren und dann den Überblick verlieren. „Ein Viertel der Ausgaben für Konsum wird über Kredite finanziert“, so Ulf Groth vom Förderverein Schuldenberatung.
Zu kämpfen haben Schuldenberater aber vor allem damit, daß viele Überschuldete „Vogel-Strauß-Politik betreiben“. Alles, was nach Rechnung aussieht, wandert in den Papierkorb . Deshalb werden bei der Beratung zuerst die Unterlagen gesichtet und danach Kontakt mit den Gläubigern aufgenommen und ein Haushaltsplan gemacht. Das alles soll neue Schulden vermeiden. „Manche sind hinterher glücklich, weil der Berg kleiner geworden ist oder eine feste Größe hat.“Manche knicken aber auch weg, wenn sie merken: Es sind nicht 25.000 Mark aufzubringen, sondern 50.000.
Aber: Nach der Erfahrung von Regina Fitz gibt es keine Fälle, in denen eine Lösung unmöglich ist. Fast jeder Gläubiger lasse sich auf einen Handel ein. So könnten zum Beispiel Schuldenbeträge festgeschrieben werden, so daß keine Zinsen mehr dazu kommen.
Hoffnung setzen die Berater auch auf das Insolvenzrecht, das ab 1999 auch Privatleuten den Konkurs ermöglichen soll. bw
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