Der Tag der Chipslette

■ Wie ein Supermarkt Kunden beschenkt

Meine Freundin Susanne und ich hatten ein Jobangebot. Wir sollten einen Samstag lang auf der im ehemaligen Ostteil Berlins gelegenen Trabrennbahn bei Karlshorst Spargel und Erdbeeren verkaufen. Die Veranstaltung nannte sich „Happy Family“ und war eine Art Open-air-Filiale der Supermarktkette „Minimal“, denn verkauft wurde lediglich eine Auswahl dessen, was es auch im Geschäft gab.

„Happy Family“ wurde einige Zeit nach der Wende erfunden, um die neuen Mitbürger noch besser mit den neuen Produktpaletten anzufreunden. Anfangs kostete es keinen Eintritt, und es gab alles umsonst. Aber die Zeiten haben sich geändert. Am 7. Juni 1997 kostete der Eintritt fünf Mark, und es gab beileibe nicht alles gratis, alkoholische Getränke, die den Großteil der Buden ausmachten, kosteten annähernd soviel wie in einer Gaststätte.

Der Andrang hatte dennoch die Dimension einer Völkerwanderung. Es war ein heißer, windiger Tag, und der feine Sand der Trabrennbahn kroch in jede Ritze. Aber die Leute ließen sich beglückt mit kleinen Chipstüten bewerfen und bezahlten brav lauwarmes Bier und Rotkäppchensekt ohne Prickel. Der Mann hinter der Bude mit Blut- und Leberwurst nach Gutsherrenart hatte jedoch einen schweren Tag. Kein Mensch kaufte ein Glas, und die Wurst zerschmolz ihm in den Gläsern.

Unsere Frischware wollte auch niemand, und nicht nur, weil wir auch nach massiven Preissenkungen noch zu teuer waren. Die meisten wußten gar nicht, was Spargel ist. Nur die Erdbeeren gingen leidlich.

Die Veranstaltung hatte eine Aura von aggressiver Kaufgier, die sich später mit einer nicht minder feindseligen Verbitterung über die angebotene Scheiße und die leeren Portemonnaies mischte. Am meisten Freude bereiteten waschtrommelgroße Chipspackungen, die es zum Preis von einer Familientüte gab. Gegen Ende des Tages kam ein weggetreten wirkender junger Mann an unseren Stand und verkündete stolz, Geld, Papiere, Schlüssel usw. verloren zu haben. Er hatte seinen kleinen, völlig verdreckten, aber fidelen Sohn bei sich. Wir drängten ihnen Erdbeeren auf.

Eine Weile nach Ladenschluß, die Besucher hatten das Gelände gegen 17 Uhr verlassen müssen, kam unser Lieferant mit zwei Frauen, um den großen Rest Spargel und Erdbeeren wieder zurück nach Beelitz im Süden von Berlin zu bringen. Ihre Gesichter waren lang, die Stirnen gefaltet. Viel Trost hatten sie nicht für uns, schließlich mußten sie am Ende die noch längeren Gesichter der Herren Chefs ertragen. Die drei waren keine Gewinner dieser oder jener Zeiten, aber trotzdem erschienen sie Susanne und mir an jenem Abend wie die heile Welt in Menschengestalt. Dann staubten sie wieder weg mit dem bislang besten Spargel der Saison, der auch noch am nächsten und übernächsten Tag als gerade gestochener angeboten werden würde, und den vielen Steigen Erdbeeren, die auch nicht besser wurden.

Wir hockten uns in eine Bretterbude und haschten. Feierabend. Noch mal den Lohn zählen und auf Toilette. Der Weg dorthin war weit. Ein Trupp Männer baute im Akkord die Gestänge der verschiedenen Bühnen ab, sie hatten Auftritten von 'N Sync und anderen Bands gedient. Mit Mundraub schwer beladen, latschten wir in Richtung S-Bahn. Außer uns ging niemand zu Fuß. Ein Riesenlaster nach dem anderen donnerte vorbei. Andere Fahrzeuge wiederum kamen jetzt erst.

Offene Mustangs und andere Traumautos rollten wie siegreiche Gladiatoren in die Trabrennbahn hinein. In ihnen Könige des Prollglamours und attraktive Damen. „Aha“, dachten wir, „bei dem Tagesverdienst muß es aber schnell gehen.“

Gedankenumwölkt folgten wir irgendeinem der hellen Sandwege. Plötzlich roch es nach meiner Tischbürste, die aus Roßhaar ist. Wir hatten uns komplett verlatscht und waren im Gehöft der Trabrennpferde gelandet. Hier wurden beschaulich Wasser- und Hafereimer geschleppt und Pferdeäpfel geschaufelt. Fury reckte seinen Kopf aus dem Stallfenster und wieherte fröhlich.

Das alles verdroß uns aber bloß. Wir wollten heim. Das heißt, Susanne freute sich seit Stunden auf ein Abendessen bei einem durch die Innenausstattung von Berliner Chinarestaurants zu Wohlstand gekommenem Ehepaar. Zum Hauptgang wollte sie den Spargel beisteuern.

Am Alexanderplatz schlurften immer noch etliche Familien und desolate Einzelpersonen mit Minimaltüten und Chips fressend auf den Bahnsteigen rum. Wir konnten sie nicht mehr sehen. Katrin Schings