Wiedergeburt mit demokratischem Etikett

■ Nach dem Verbot der Wohlfahrtspartei: Die türkischen Islamisten reorganisieren sich

Istanbul (taz) – Nach dem Verbot der islamistischen Wohlfahrtspartei Refah durch das Verfassungsgericht steht nun eine Entscheidung darüber an, in welcher Form sich der politische Islam in der Türkei reorganisieren wird. Oberstaatsanwalt Vural Savas, der den Verbotsantrag vor dem Verfassungsgericht gestellt hatte, kündigte am Samstag an, er werde einen solchen Antrag auch gegen eine eventuelle Nachfolgepartei stellen.

„In unseren Computern sind die Mitglieder der Wohlfahrtspartei registriert. Es reicht aus, wenn bedeutende Teile der Mitglieder und der Abgeordneten in eine Nachfolgepartei eintreten und die Politiker der Nachfolgepartei im Sinne der mit politischem Betätigungsverbot belegten Politiker agieren“, sagte Savas. Dagegen erklärte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Refah, Lütfü Esengül, alles werde beim alten bleiben: „Wir kriegen nur einen neuen Namen und ein neues Parteizeichen.“

Angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in der Türkei ist ein unmittelbares Verbot einer Nachfolgepartei der Refah zweifelhaft. Die Vorbereitung eines neuerlichen Verbotsantrages und der anschließende Prozeß vor dem Verfassungsgericht würden mindestens ein Jahr dauern. Die politisch relevanten Kräfte – Parteien und Militär – sind nicht daran interessiert, die Islamisten in den Untergrund zu drängen. Ministerpräsident Mesut Yilmaz erklärte gar, er „bedauere“ es, daß eine politische Partei verboten worden sei.

Angesichts des Umstandes, daß eine Partei, die bei den letzten Parlamentswahlen über ein Fünftel der Stimmen auf sich vereinigen konnte und die stärkste Fraktion im Parlament stellt, verboten wurde, sind die politischen Reaktionen erstaunlich milde. Das von der Europäischen Union und dem US-Außenministerium als demokratiefeindlich gescholtene Urteil des türkischen Verfassungsgerichts wird bis in die Reihen der Wohlfahrtspartei akzeptiert. In einem Rechtsstaat, so der Vorsitzende und ehemalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan, müsse man auch „ungerechte“ Gerichtsentscheidungen hinnehmen. Allen Akteuren ist klar, daß die Islamisten bei den nächsten Wahlen als Partei antreten werden.

Unklar ist die künftige Rolle Erbakans. Laut Urteil darf er weder Gründer noch Mitglied einer Partei sein. Doch scheint einem Einzug Erbakans als unabhängiger Kandidat ins Parlament juristisch nichts im Wege zu stehen. Auf keinen Fall will Erbakan, der in der islamistischen Bewegung zu einer Legende geworden ist, seine Führungsrolle aufgeben. Andererseits muß er sich nun, da seine Immunität aufgehoben ist, wegen Reden, die zum Verbot der Partei führten, vor Strafgerichten verantworten.

Die Wendung der Bewegung weg vom Extremismus und hin zur politischen Mitte, könnte der Schlüssel für Erbakan sein, um seine politische Karriere zur retten. Deshalb ermahnt er seine Anhänger zu Ruhe und Ordnung. Bei einer ersten Zusammenkunft von Spitzenpolitikern der Wohlfahrtspartei nach dem Verbot sei der Beschluß gefaßt worden, eine islamische, demokratische Volkspartei zu gründen, berichtete gestern die Tageszeitung Hürriyet. „Es geht nicht darum, 20 Prozent der Bevölkerung zufriedenzustellen, sondern mit den übrigen 80 Prozent in Frieden zusammenzuleben“, wird ein nicht namentlich genannter Funktionär zitiert. Ömer Erzeren