Die Bilder kehren immer wieder

Wie soll man einem Kind in Ruanda erklären, daß seiner Mutter der Bauch aufgeschlitzt wurde? Von den Problemen, traumatisierte Völkermordüberlebende zu behandeln  ■ Von Pierre-Olivier Richard

„Wir wurden an eine Straßensperre gebracht“, erzählt das kleine Mädchen. „Wir saßen auf dem Boden. Neben uns waren Wachleute. Da waren auch Hutu- Kinder und haben uns angeguckt. Manche von ihnen sagten, sie wollten sehen, ob das Gehirn bei den Tutsi wirklich anders aussieht, wie man es ihnen erzählt hatte. Also hob ein Mann ein Kind hoch und öffnete ihm den Schädel mit einer Machete. Dann machte er das noch mal mit einem anderen Kind. Die Hutu-Kinder guckten zu.“

Das kleine Mädchen kam mit dem Leben davon. Denn an dieser Straßensperre wurden nur Männer und Jungen getötet. Ein Milizionär ließ das Mädchen laufen, nachdem seine Brüder ermordet worden waren. Und der Anblick der geöffneten Schädel sucht bis heute das kleine Mädchen heim.

„Die Erinnerung kehrt zurück wie ein Film“, erklärt Tito Mugrefya, ruandischer Psychologe am nationalen Traumazentrum in der Hauptstadt Kigali. „Dann bricht die Krise aus. Sie sind in der Schule oder sehen Flüchtlinge. Dann werden sie ohnmächtig, und die Bilder des Völkermords kehren zurück.“

Manche Kinder reden dann kein Wort mehr, andere versuchen sich umzubringen. Einige geben sich die Schuld an dem, was sie erlebt haben, zum Beispiel wenn vor ihren Augen ihre Eltern getötet wurden. „Sie haben keinen Kinderblick mehr“, sagt Tito. „Man spürt eine ständige Angst. Sie verstehen nicht, was passiert ist.“

Es ist schwer, einem Kind zu erklären, wieso jemand seiner schwangeren Mutter den Bauch aufgeschlitzt hat. Wieso man ihr den Fötus herausgeholt und getötet hat. Vor allem wenn die Mörder Freunde der Familie waren oder Verwandte. Von Hutu und Tutsi zu reden bedeutet dem Kind nichts. Die meisten Kinder in Ruanda wußten vor dem Völkermord gar nicht, daß sie einer „Ethnie“ angehören. Erst später hat man es ihnen gesagt. Fast nie sagen sie von sich, sie seien Hutu oder Tutsi.

Ihre Bezugsgruppe ist zunächst ihre Familie. Dann die Freunde, die Nachbarn und dann der Rest. Der Völkermord hat alle diese Bezugsrahmen zerstört, vor allem in Kindern, die aus sogenannten „gemischten Familien“ – Hutu und Tutsi – stammen. Von einem Tag auf den anderen wurden aus Nachbarn und Freunden, aus Lehrern, Priestern und Beamten Mörder. Wohin gehören die Kinder jetzt?

Die Opfer sind nicht mehr sie selbst

Die Therapie als solche ist nicht schwer. Schwer ist das Ausmaß der Schäden. Wie soll man eine ganze Bevölkerung heilen? „Idealerweise müßten alls Überlebenden (rescapés) eine psychologische Hilfe bekommen“, meint Tito. „Viele kommen gerade so über die Runden. Sie brauchen Unterstützung. Sobald man sie auf das Thema anspricht, steigen ihnen Tränen in die Augen, und sie lachen nervös. Sie sind nicht mehr sie selbst.“

Selbst für die bloße Beschreibung eines solchen Traumas gibt es nur wenig sprachliche Mittel. Und mit Kindern ist eine besonders spezialisierte Arbeit nötig: Zeichnen, Musik machen. Aber es gibt kaum Experten dafür in Ruanda. Und ausländische Helfer können wenig tun. Man muß ja mit den Leuten in der Landessprache reden können.

„Wir versuchen, eine Sensibilisierung durch Traumaberater herzustellen“, erklärt Mugrefya. „Wir bilden Leute dafür aus, in Schulen und Krankenhäuser zu gehen, um weiterzugeben, wie man ein Trauma identifiziert, wie man mit dem Kind redet, was man den Eltern raten muß. Die schwierigsten Fälle kommen zu uns nach Kigali. Das ist wenig, aber mehr können wir zur Zeit nicht leisten.“

Trotzdem funktioniert das Zentrum leidlich. „Wir leben den Völkermord“, sagt Tito und senkt die Augen. „Jeder Patient hat seinen Völkermord. Jeden Tag. Die Daten, die Orte, die Ängste. Und mit psychischen Krisen dazu.“

Im vierten Jahr nach dem Völkermord ist das Problem der rescapés nicht kleiner geworden. Für Kinder, die noch Familie haben, ist die Behandlung einigermaßen gewährleistet. Kindersoldaten und vor allem Waisen ergeht es anders.

Es gibt keine seriösen Studien, wie viele Waisen es in Ruanda gibt und wo sie Zuflucht gefunden haben. Es gibt nur Einzelfälle. Da ist die Familie, die ihr adoptiertes Waisenkind nach einem Monat wieder von der Schule nimmt und zur Arbeit schickt. Soll das Kind sich ausbeuten lassen? Oder sich beschweren und von der Armee in ein Waisenhaus gesteckt werden?

So gibt es in Kigali immer mehr Straßenkinder. Und zwölfjährige Familienoberhäupter, die für fünf oder sechs jüngere Geschwister sorgen, für sie ein Dach über dem Kopf suchen und den Lebensunterhalt verdienen müssen. Für sie sind die Chancen von vornherein ungleich. Sie können nicht die Gebühren zahlen, um sich für die Schule einzuschreiben: Umgerechnet 50 Mark für ein Schuljahr, was für viele Ruander ein Monatseinkommen darstellt. „Man kann ja nicht die Privatschulen zwingen, sie aufzunehmen“, meint ein Abgeordneter. Sie haben zuwenig Plätze. Und dann wäre ja noch die Schuluniform und das Schulmaterial und bei weit entfernten Schulen auch eine Matratze.

Zwei regierungsunabhängige Organisationen in Ruanda, Ibuka und Barakabaho, kümmern sich um allein gelassene Kinder. Aber auch sie haben kein Geld. Insgesamt gibt es für Ruandas Völkermordüberlebende kaum Hilfen. Für die Völkermörder und ihre Geiseln in den zairischen Flüchtlingslagern gab es zwischen 1994 und 1996 2,5 Milliarden Dollar. Seit ihrer Rückkehr geht der Großteil der internationalen Ruanda-Hilfe auch an die Wiedereingliederung der Flüchtlinge. Unicef, das UN-Kinderhilfswerk, das für die Betreuung psychisch geschädigter Kinder zuständig ist, hat dagegen seine Ruanda-Hilfe um 60 Prozent reduziert. Dabei sind mit der Rückkehr der Flüchtlinge die Traumaprobleme im Land ja eher größer geworden.

Hilfsorganisationen lassen die Kinder fallen

„Letztes Jahr“, erzählt Tito Mugrefya, „gab eine Hilfsorganisation ein Waisenhaus mit vierzig Kindern auf. Es dauerte mehrere Tage, bis Unicef und die Regierung davon erfuhren. Viele Organisationen lassen die Kinder fallen, wenn über sie kein Geld mehr einzutreiben ist.“

Vor dem finanziellen Druck hat jetzt auch Tito Mugrefya kapituliert. Der einzige für eine solche Arbeit ausgebildete einheimische Ruander lebt jetzt in Belgien – nach UN-Bestimmungen galt er als „Landsmann“, dem man nur ein Fünftel des Gehalts zu zahlen braucht, das eine des Ruandischen nicht mächtige US-Expertin bekommt, wenn sie in Ruanda arbeitet. Von einer solchen Entlohnung konnte er seine in Belgien lebenden Kinder nicht finanzieren. So ging er in das Land zurück, wo er bereits vor dem Völkermord fünfzehn Jahre lang gelebt hatte. Sein Institut in Kigali muß sehen, wie es über die Runden kommt.

Das ist nicht das einzige Beispiel. Von zehn Kindern, die 1996 in der staatlichen Schule der Stadt Gitarama als traumatisiert eingestuft worden waren, sind in diesem Schuljahr nur noch zwei an der Schule. Zwei andere haben die Schule gewechselt. Sechs haben die Schule einfach verlassen, weil sie zuwenig finanzielle und psychologische Unterstützung bekamen und überfordert waren. Hilfsorganisationen reden sich heraus: „Am einfachsten ist es doch, Nothilfe zu kriegen“, erklärt der Leiter einer Hilfsorganisation. „Und die Regierung meint, es gebe keine Notsituation mehr.“ Will man so der ruandischen Bevölkerung die Werte des Gemeinsinns beibringen?