In voller Deckung

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind die erfolgreichsten Kampfformeln des modernen Intellektuellen. Mit Logik und Wissen hat dieser Erfolg weniger zu tun als mit dem Erfinden eines Gesellschaftsentwurfs  ■ Von Walter van Rossum

„Schön ist es, wenn Intellektuelle reden. Schöner ist es, wenn sie etwas zu sagen haben“, resümiert Kurt Scheel seine gesammelten Einsichten und lädt uns damit zu einem intellektuellen Dreisprung ein: Unschön ist, wenn ein Intellektueller redet, ohne etwas zu sagen zu haben.

Obwohl sein Aufsatz sich als Plädoyer für Wissen ausgibt, geht er mit diesem Grundstoff doch eher diätisch um. Dummerweise macht er genau diesen Vorwurf Günter Grass, der bekanntlich kürzlich an prominenter Stelle von den „diesmal demokratisch abgesicherten Barbareien“ gesprochen hat. Bezweifelt Scheel den Wahrheitsgehalt von Grassens Rede: deutsche Hilfe bei der militärischen Aufrüstung der völkermordenden türkischen Regierung; deutsche Weigerungen, auch eindeutig bedrohte kurdische Asylanten aufzunehmen? Nein, Scheel ist nur der häßlichen Attacken gegen unser hübsches Gemeinwesen überdrüssig. „Die heutige Bunzrepublik“, kalauert er, „ist ein demokratischer Staat.“ Dä – das sitzt.

Aber Grass steht noch: Schließlich hat er ausdrücklich von einer „demokratisch abgesicherten“ Barbarei gesprochen. Diese allerdings unerhörte Koinzidenz von Demokratie und Barbarei ist anscheinend im Wissenskatalog von Kurt Scheel nicht vorgesehen. Zumindest was die Gegenwart angeht. Früher war das anders: Als die Altnazis noch ihr Unwesen trieben, da war ein Böll schon nötig. Doch da wir lange genug durch das Fegefeuer der Philologie gegangen sind, müssen wir kleinlich nachfragen: War die Bunzrepublik da keine Demokratie? Scheel klotzt global mit sozusagen globalisiertem Wissen: „Wenn Grass' Barbarei-Verdikt Substanz hätte, was wäre dann vom Asylrecht in Frankreich und Italien zu sagen, in den USA und Japan, um nur einige Demokratien zu nennen? Alles fascho?“ Nein, sagt auch keiner – aber barbarisch doch.

Die Expertise Kurt Scheels belegt vor allem ein Dilemma der Intellektuellen: Sie wollen ihren Auftritten gerne einen höheren Grund geben als bloß ihre Texte: Wissen beispielsweise, Expertentum, Weihen der Methode oder wissenschaftliche Weltübersicht. Nun ist aber bekanntlich Grass nicht als Romancier Intellektueller, und der Soziologe ist es nicht, wenn er einen Fachbeitrag schreibt. Intellektueller ist, wer öffentliche Probleme öffentlich ausdrücklich im Lichte des Unwissens zum Thema macht.

Eine Entscheidung für Ja und Nein

Liberté, egalité, fraternité waren nie die Abkömmlinge strenger Logik noch die Produkte historischer Gesetze. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind die ersten und erfolgreichsten Kampfformeln des modernen Intellektuellen. Kein Wissen begründet ihren Rang und ihren Erfolg. Sie beschreiben allein die Kommunikation einer (Gegen-)Öffentlichkeit, die sich an den Texten von Intellektuellen formiert hat, und sie erheben die Beschreibung zum Gesellschaftsentwurf. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert müssen die Gesellschaftsmitglieder ihre Gesellschaft erfinden: worum sich das Ganze und also auch der einzelne drehen soll. Für diese Spielregeln gibt es Geschichten, Argumente, Informationen, Tatsachen und Phantasiebestände – niemals gibt es letzte Begründungen.

Es gibt auch keine verläßlichen Motive, sich um Kurden und andere Eingeborene zu kümmern. Was der Mensch dem Menschen ist, entscheidet sich meistens von Fall zu Fall. Deshalb kann man sich aber auch den Fall zu eigen machen: als Sinngebungsversuch von Vergesellschaftung in Zeiten der Globalisierung. Intellektuelle handeln mit Wertentwürfen, die sie der Schlachtordnung des Faktischen entgegenhalten. Sie sind nicht die Moralmonopolisten, vielmehr erinnern sie daran, daß fast jedes funktionale Problem auch ein moralisches ist: die Entscheidung für Ja und Nein. Entschlossen machen sie die Welt zur Aufgabe des Individuums, ebenso entschlossen verzichten sie auf höhere und letzte Wahrheit. Die Welt bestimmen heißt, dem Gemurmel der Teilnehmer zu lauschen und gegebenenfalls ein Libretto vorzuschlagen.

Der Erfolg von Grass' Anklage beruht nicht auf schöpferischer intellektueller Arbeit, sondern auf einem Sekundäreffekt: der Plazierung. Was dutzendfach in der taz zu lesen und bei „Monitor“ zu sehen war, daran können die Zitadellenbewohner leicht vorbeischauen. Aber wenn die im Namen des Geistes versammelten Techniker des Realen mit den Stinkbomben des Faktischen beworfen werden, dann gerät die öffentliche Ordnung der Öffentlichkeit durcheinander, und wenigstens für einen Moment lang drehen die humanistischen Sonntagsreden durch. Der Intellektuelle produziert also nicht nur Texte, sondern seine Texte organisieren ein immaterielles Forum: das Palaver des Bestimmens, suchende Öffentlichkeit.

Nicht Emile Zola hat das Intellektuellenwesen begründet, er hat fast 150 Jahre nach den Aufklärern an ihre Bedeutung angeknüpft. „Die Tiefe ihrer Werke war ihr Publikum“, hat Jean-Paul Sartre über die französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts geschrieben und damit an eine Höhe erinnert, von der wir kaum mehr den Traum haben. An Texten formierte sich eine Öffentlichkeit, die binnen weniger Jahrzehnte das ewig alte Weltbild zum Einsturz brachte, ihren Erfahrungen neue Namen gab und darauf eine andere Welt errichtete. Diesen Vorgang in Termini von Geist und Macht zu beschreiben bringt wenig: Es geht um die Macht fermentierender Kommunikation und nicht um die Begründungen des „Geistes“. Zumal die Überlegenheit der aufklärerischen Texte gerade in der Preisgabe eines abgeleiteten Wissens besteht. Die Einheit der Vernunft löst sich in die Vielfalt der Textsorten und Denkarten auf. Die Intellektuellen der Aufklärung waren Poeten wie Wissenschaftler, Theoretiker, Techniker, Pamphletisten und Dramatiker. Rationalität war eine Denkform, Lyrik eine andere. Das angeblich mechanistische Weltbild hatte keine Probleme, relative Zone neben dem Chaos zu sein. Kritik wird zum Leitkonzept: die unendliche Ablehnung eines Wissens im Spiel des Unwissens. Doch das Spiel des Unwissens ist der Ernstfall und insofern nicht gratis.

Leider ist die Geschichte nicht so weitergegangen. So wie das Publikum sich wieder in Gewißheiten geflüchtet hat, taten es die Intellektuellen auch. Sie sprechen gern im Namen eines Höheren: Angelehnt an das Wissen der Wissenschaften, die Dogmen der traditionellen Moral und die Gesetze der Geschichte, gestützt auf die Religion „des“ Menschen oder Ansprachen des Himmels, suchen ihre Texte Geltung in der Wahrheit des Geistes, nicht in den Arkanien des Publikums. Es stimmt, erst Emile Zola versteht sich wieder als der freihändige Intellektuelle der Aufklärung. Dem konkreten Stoff einer ganz normalen „Barbarei“ – die Affäre um den Hauptmann Dreyfus – hat er eine Gesellschaftsbeschreibung abgerungen, an der sich die französische Gesellschaft auf Jahrzehnte abarbeiten mußte.

Erst die literarisch-philosophische Reputation eines Autors verschafft ihm Gehör als Intellektueller. Angesichts des Prestigeverlustes der bürgerlichen Hochkultur befürchtete Wolfgang Engler in der taz, daß heute der Intellektuelle nur dann gehört wird, wenn er neben Dolly Buster talkt. Was ja auch nicht so schlimm wäre – doch wo waren denn Kemals Titten? Ich denke vielmehr: Auf der Rückseite einer professionellen und kommerziellen Medienöffentlichkeit mit ihren beängstigenden Durchlaufgeschwindigkeiten bildet sich eine geradezu beängstigende Bereitschaft zur Andacht für Auftritte des Intellektuellen als Ikone des Geistes und Anlaß für Frömmigkeiten der besseren Menschen. Das Aufsehen, das Grassens artiger Ungehorsam verursacht hat, belegt es.

Allerdings profitierte Grass noch von einem anderen Effekt: In den letzten zehn Jahren haben Intellektuelle keineswegs geschwiegen: Sie sind fast ausschließlich als Geistberater des Faktischen hervorgetreten. Von den Fürbitten um Kriegsbeteiligung am Golf und weltweite militärische Rettungseinsätze über schwer geschwollene Litaneien gegen die Ungewißheiten der Moderne bis zur Vergangenheitsbewältigung No.2, also von Enzensberger über Botho Strauß bis Wolf Biermann, die intellektuellen Highlights der letzten Jahre hätten alle vom Bundespresseamt verantwortet sein können. Die Zunft hat den Arbeitgeber gewechselt, und so haben wenigstens die Intellektuellen die „geistig-moralische Wende“ vollzogen.

Demokratisch abgesicherte Barbarei

Grausam werden wir daran erinnert, daß den Begriff „Intellektueller“ ein äußerst erfolgreicher Antiintellektueller – nämlich Maurice Barrès – ins Spiel gebracht hat. Wie Botho Strauß, der ausgerechnet im Spiegel von der Tiefe der Mythen als Rettung vor dem Gefasel faselt, so huldigen auch Barrès und seine Enkel dem Paradox aller Antiintellektuellen, nämlich die Öffentlichkeit ausschließlich dazu zu benutzen, gegen ihre Prinzipien – instabile Kommunikation – zu predigen und zu immunisieren.

Und wenn Enzensberger neue deutsche Weltmachtansprüche legitimiert, dann konnte er sich beim Bau unverzeihlich dummer Formeln („Saddam=Hitler“) gewiß nicht auf vertiefte Kenntnisse berufen – wie Kurt Scheel wieder mal bloß meint, und diesmal scheint es ihn nicht zu stören, daß die deutsche Vergangenheit beschworen wird. Enzensberger wollte einmal bloß der Silhouette der Aufklärer ähneln, deren Texte kühn ungewisse Welt geworden sind. Der Fake hat nur zum Verrrat an der Gründungsgeste der Intellektuellen gereicht. Niemand brauchte Enzensbergers Feuerempfehlung, in der Menschenrechte für plumpeste Machtpolitik mißbraucht wurden. Vertiefte Kenntnisse haben wir heute, wie die deutsche Vergangenheitsbewältigung am Golf gelaufen ist. Ich sehe weit und breit keinen Zola, der aus dem Stoff dieser demokratisch abgesicherten Barbarei eine Geschichte gewinnen könnte, mit der wir – unwissend – uns in dieser Welt besser verstünden. Ein Grund mehr, daran zu arbeiten.